DIE US-ÖFFENTLICHKEIT HAT DEN ABU-GHRAIB-SKANDAL ABGEHAKT
: Bush und Kerry in Ignoranz vereint

Das hohe Strafmaß erscheint angemessen: acht Jahre Haft für Seargant Ivan Frederick wegen der Folterungen und Misshandlungen im Abu-Ghraib-Gefängnis in Bagdad. Nur weil er sich bereit erklärt hat, gegen andere Beteiligte auszusagen, muss er nicht zehn Jahre hinter Gitter. Theoretisch also könnte Frederick nun dazu beitragen, die Verantwortlichkeiten im Abu-Ghraib-Skandal nach oben zu verfolgen. Doch daran besteht offensichtlich kein größeres Interesse. Für die US-Medien ist der Fall abgehakt. Und von Anklagen gegen andere als die bereits belangten acht Angehörigen jener berüchtigten Nachtschicht ist auch nicht die Rede.

Die Aufarbeitung des Skandals ist längst aus der politischen Sphäre in die Regale liberaler Buchhandlungen verbannt. Die Bush-Regierung hat es vermocht, den Skandal von Abu Ghraib als unerklärliches Einzelphänomen nach unten durchzureichen. Dabei lassen viele Untersuchungen und Augenzeugenberichte keinen Zweifel daran, dass die Misshandlungen von Gefangenen im Irak wie in Guantánamo systematisch und zielgerichtet stattfanden – und vermutlich stattfinden.

Wenn heute in den USA über den Irak diskutiert wird, geben die Wahlkampfteams beider Seiten die Agenda vor, und da geht es um andere Dinge: um die inzwischen nach Pentagon-Angaben 1.103 im Irak getöteten US- Soldaten, um den Kampf gegen den Terror, um die mangelnde Nachkriegsplanung und die völlig unklare politische Zukunft Iraks – als ob all das mit dem Phänomen Abu Ghraib überhaupt nichts zu tun hätte. Abu Ghraib passt beiden Seiten nicht ins Wahlkampfkalkül. Die Regierung weist nach einer kurzen Phase des demonstrativen Unbehagens über die Bilder jede Kritik am Irakeinsatz zurück. Und der Kerry-Wahlkampf hat kein Interesse, es sich womöglich mit den Armeeangehörigen zu verscherzen. Dass Kerry nicht die Kraft und den Mut aufbringt, die Verantwortlichkeiten für Abu Ghraib zu benennen, zeigt, wie erfolgreich sich die Lesart der Herren Bush und Rumsfeld von den bedauerlichen Verfehlungen Einzelner durchgesetzt hat. Eine wirkliche Aufarbeitung der Vorgänge im Irak wird es unter dieser Regierung nicht geben – womöglich aber unter einem Präsidenten Kerry auch nicht. BERND PICKERT