Lehrstellen fehlen tatsächlich

Die Jugend ist zu ungebildet für die Lehre, sagt die Wirtschaft – und rechnet sich die Lehrstellensituation schön. Besuche im Statistik-Dschungel und bei einem Mittelständler, der gelernt hat, hinter das Zeugnisblatt zu schauen

VON MART-JAN KNOCHE

Uwe Remstedt wünscht sich, dass seine Azubis endlos vom Schlafen erzählen können. Remstedt ist Mittelständler und verkauft Betten. Eine Daunendecke, gefüllt mit den Federn der isländischen Eiderente, kostet bei ihm schon mal 2.999 Euro. Die luxuriöseren Besttsysteme verlassen für 15.000 Euro seine beiden Hamburger Ladengeschäfte. „Bei diesen Summen verlangen die Kunden zu Recht, auf hohem Niveau beraten zu werden“, sagt Remstedt, der seit 27 Jahren Jugendliche zu Einzelhandelskaufleuten ausbildet. Das sollten die nach drei Jahren Lehre können.

„Wenn ein Kopfkissen mit 850 Gramm Daunen gekauft wird, bei einem Kilopreis von 90 Euro“, sagt der Unternehmer, „dann müssen wir den Rechenweg zum Kaufpreis kennen.“ Der „verheerende“ Trend sei aber: Dreisatz und Prozentrechnung beherrschen die jungen Bewerber oft nicht. Um Kundenbriefe aufsetzen zu können, müsse erstmal die Rechtschreibung aufpoliert werden. Ein schleichender Prozess sei das gewesen, so Remstedt. Vor einigen Jahren hätten die Hauptschüler noch gekonnt, was für viele Realschüler heute ein Problem darstelle. Ja, soweit stimme er den Klagen vieler Betriebe zu: Die schulische Vorbildung sei heute oft „einfach nur katastrophal“. Nur die Konsequenzen, die Remstedt daraus zieht, sind andere.

Während laut einer aktuellen „Ausbildungsumfrage“ des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) fast 70 Prozent der Hamburger Ausbildungsbetriebe aufgrund der „mangelnden Ausbildungsreife“ weniger Ausbildungsplätze anbieten als sie könnten, hält Remstedt dagegen: „Wenn die Schule das allein nicht schafft, muss ich als Ausbilder ausgleichend wirken.“ Anstatt der üblichen zwei Azubis, lernen derzeit drei junge Leute bei Betten Remstedt – wenn es sein muss auch deutsche Orthografie. Dabei befolgt der Kaufmann nur, was paradoxerweise ebenfalls gut 70 Prozent der von der Handelskammer Befragten angeben: Wer ausbildet, investiere in „die langfristige Sicherung des Fachkräftebedarfs“. Der wird in den kommenden Jahren nicht nur im Einzelhandel zunehmen. Die Alternative, nicht auszubilden, sei da die falsche Alternative, sagt der erfolgreiche Bettenhändler.

Wie eine bundesweite Umfrage des DIHK zeigt, halten die Unternehmen wenig vom Bildungsstand der Jugend (siehe Kasten). Die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger sei Ausbildungshemmnis Nummer eins, verkündete Karl-Joachim Dreyer, Vize-Präses der Handelskammer Hamburg vor einigen Tagen in einer Pressemitteilung, die die Hamburger Ergebnisse der Online-Befragung zusammenfasste. „Noch vor der wirtschaftlichen Situation“, stellte Dreyer fest. „Die Unternehmen wollen trotz Krise weiter in Ausbildung investieren“, lautete der Tenor. Wären bloß die Schüler nicht so schlecht.

Die Hamburger Schulbehörde hat an dem niederschmetternden Zeugnis, das ihr von der Wirtschaft ausgestellt wird, nichts auszusetzen. „Ich kenne das Problem“, teilte Schulsenatorin Christa Goetsch mit. Dass mehr Schüler erfolgreiche Abschlüsse erreichten, sei „der zentrale Grund für die Hamburger Bildungsoffensive“, so Goetsch. In den Stadtteilschulen würden zukünftig Berufsschullehrer und die Lehrer der Stadtteilschule gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit und weiteren Akteuren für einen besseren Übergang in den Beruf sorgen.

Ist die Jugend „zu blöd für die Ausbildungsstelle“ wie die Hamburger Morgenpost schreibt? Hat sie sich die fehlenden Plätze selbst zuzuschreiben?

An diesem Mittwoch erschien der Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2009, herausgegeben vom Bundesinstitut für Berufsbildung. Darin räumt der Forscher Joachim Gerd Ulrich mit dem Mythos der Handelskammern auf, dass es teilweise sogar mehr offene Lehrstellen gäbe als Bewerber. Grund: Bisher sind all jene aus den Zahlen der Lehrstellen-Suchenden weggefallen, die nach ihrer erfolglosen Bewerbung in Alternativen verblieben: In Schulen, Maßnahmen, Praktika oder Jobs. Bundesweit sind das etwas mehr als 80.000 Jugendliche. In Niedersachsen kommen so für 2008 gut 10.000 unversorgte Bewerber hinzu, in Schleswig-Holstein 2.300, in Hamburg 579 und in Bremen 820.

Die Bundesagentur für Arbeit nimmt nach dem Hinweis der Forscher die Zahlen jetzt getrennt auf – und stellte für die Lehrstellensituation der Regionaldirektion Nord am gleichen Tag eigene, bedrückende Zahlen für 2009 vor: Ein Rückgang der gemeldeten Lehrstellen von 12,5 Prozent gegenüber 2008 wurde festgestellt. In Hamburg gar um 18 Prozent. „Viele Unternehmen erkennen im persönlichen Gespräch“, sagte ein BA-Sprecher vorsichtig in Richtung Wirtschaft, „dass auch ein Bewerber mit Dreien oder Vieren im Zeugnis eine Chance durchaus verdient hat.“

Uwe Remstedt ist stolz auf seine Azubis, weil sie endlos vom Schlafen erzählen können. 2008 fing die letzte Auszubildende an. Sie hatte einen schlechten Schulabschluss. Er gab ihr die Chance, weil sie sich während der Einstiegsqualifikation der Arbeitsagentur über einige Monate bewährt hatte. „Und weil sie von der Belegschaft sofort ins Herz geschlossen wurde“, sagt Remstedt.