„Recht muss nicht politisch klug sein“

Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner über ihren Schock nach dem Urteil des Verfassungsgerichts. Für den Sozialetat seien „bedrohliche Dimensionen“ erreicht. Der Sparkurs darf nicht verschärft werden. Aber Kürzung des Blindengelds kommt sicher

Interview ROBIN ALEXANDER
und SUSANNE AMANN

taz: Frau Knake-Werner, hat Sie das Urteil des Verfassungsgerichts geschockt?

Heidi Knake-Werner: Ja. Es hat mich schon geschockt, dass der Haushalt für nichtig erklärt wurde. Gerichte setzen rein rechtliche Maßstäbe an. Aber Recht muss nicht politisch klug sein.

Wie meinen Sie das?

Ich mache mir Sorgen um die Folgen dieses Urteil: Die soziale Infrastruktur Berlins darf nicht zur Disposition gestellt werden. Das Urteil kritisiert den rot-roten Senat, aber die Folgen werden die Menschen tragen müssen, die auf staatliche Hilfen angewiesen sind.

Der Regierende Bürgermeister hat erklärt, das Urteil sei im Wesentlichen eine Bestätigung seiner Politik des Sparens.

Es ist richtig, dass uns dieses Urteil hilft, in Karlsruhe Bundeshilfen einzuklagen: Jetzt weiß auch der Letzte, dass wir in Berlin in einer Notlage sind. Aber auch in einer Notlage wollen wir die soziale Infrastruktur erhalten. Ein Teil der Koalition und offensichtlich auch die gesamte Opposition möchte jetzt den Sparkurs weiter verschärfen. Der andere Teil möchte versuchen, den bisherigen Entwurf für den Doppelhaushalt 2004/5 mit Begründungen zu verteidigen. Zwischen diesen beiden Polen werden wir uns verständigen müssen.

Was bedeutet das Urteil konkret für Ihren Etat?

Das kann für den Sozialhaushalt durchaus bedrohliche Dimensionen annehmen. Unser Haushalt weist zwar eine Konsolidierungslinie auf, die sehr gut begründbar ist. Aber das Verfassungsgericht sagt, dass unter Notlagebedingungen unsere Ausgaben bundes- oder landesverfassungsrechtlichen Rahmen entsprechen müssen.

Alles, was ich in dem jetzigen Entwurf an Begehrlichkeiten zurückkämpfen konnte, steht wieder auf der Tagesordnung. Das gilt für die Sozialhilfesätze, deren Senkung auf Brandenburger Niveau ich abwehren konnte. Das gilt für das Blindengeld und Zulagen für Sozialhilfeempfänger. Oder unser Drogenhilfesystem. Das alles sind freiwillige Leistungen.

Jetzt ist nichts mehr sicher?

Die Befürchtung habe ich. Aber ich kann sehr gut aus der Berliner Landesverfassung begründen, dass Menschen mit Behinderungen einen Gleichberechtigungsanspruch haben. Berlin als sozialer Brennpunkt kann es sich auf keinen Fall leisten, alle Leistungen auf das Mindestmaß zurückzufahren. Ein Beispiel: Wir betreiben Stadtteilzentren. Das ist ein Stück Ausgleich dafür, dass immer mehr Menschen darauf angewiesen sind, soziale Einrichtungen, Treffpunkte, Informationsmöglichkeiten und Internetzugang zu finden, die kostenlos sind. Sie können es sich nämlich schlicht nicht mehr leisten, solche Dienstleistungen zu kaufen.

Wegen Empörung in PDS und SPD veränderte der Senat seinen Pläne zur Erhebung von Kita-Gebühren und zur Kürzung des Blindengeldes. Ist das nun alles wieder Makulatur?

Es hätte eine Möglichkeit gegeben, einen Teil der Kürzung beim Blindengeld zurückzunehmen. Das aber ist nun in der Tat hinfällig. Die PDS wollte eine Kürzung von 585 auf 468 Euro abwehren. Brandenburg aber hat nur ein Blindengeld von 266 Euro im Monat. Jeder Euro darüber hinaus steht jetzt unter noch stärkerem Begründungszwang. Die Opposition fordert, die Investitionen zu erhöhen. Aber wo soll es denn herkommen, wenn nicht aus dem Bereich des Sozialen, der Kinderbetreuung und der Kultur, wenn höhere Kredite nicht mehr zulässig sind?

Für die Haushaltsaufstellung ist der Finanzsenator verantwortlich, der in Verhandlungen mit den Fachressorts gerne besonderen Sachverstand für sich in Anspruch nimmt. Nun hat das Gericht seinen Entwurf abgewiesen.

Was wir gemeinsam in den Haushaltsverhandlungen erreicht haben, ist nicht gründlich genug begründet worden. Das ist offenkundig ein Versäumnis unserer Koalition.

Schon lange ist der Haushalt nicht in Ordnung …

… ja, nur gab es keinen Kläger. Die damalige Opposition aus PDS und Grünen hat bewusst darauf verzichtet, den Senat zu verklagen, um ihn nicht zu einem sozial unerträglichen Sparen zu zwingen. Es muss einem Land möglich sein, trotz extremer finanzieller Schwierigkeiten, die soziale Balance zu halten. Das haben wir mit diesem Haushalt so gerade noch geschafft. Und jetzt soll uns dieses Urteil zu noch schärferen Einschnitten zwingen. Dafür trägt die schwarz-gelb-grüne Opposition die Verantwortung.