„Plötzlich ist er schlaff geworden“

AUS FRANKFURT AM MAIN HEIDE PLATEN

Der 28. Mai 1999, mittags, ein warmer Tag, einer für Gewitter. In einer der Zellen des Bundesgrenzschutzes am Frankfurter Flughafen liegt der Sudanese Aamir Ageeb auf einer Matte auf dem Bauch, seine Hände, seine Füße gefesselt und auf dem Rücken mit einer Schlaufe verbunden. Diese „hogtie“-Stellung ist bekannt von Folterbildern anderswo in der Welt und wird auch Affenschaukel genannt. Der Kopf des 30-Jährigen steckt unter einem Motorradhelm.

Die beiden BGS-Beamten Reinhold Sch. und Taner D. kommen zum Dienst. Sie haben den Auftrag, den im internen Jargon „Abschübling“ genannten Mann auf dem Flug von Frankfurt über Kairo in sein Heimatland Sudan zu begleiten. Ageeb gilt als „besonders abschiebeunwillig“, er ist der Dienststelle schriftlich als renitent und in Großbuchstaben „GEWALTTÄTIG“ avisiert worden.

Solchen abgelehnten Asylbewerbern wird von vornherein eine Spezialbehandlung zuteil. Sie werden „einzeln angeliefert“, eingesperrt, durchsucht, von BGS-Beamten ins Flugzeug verfrachtet und in ihr Heimatland eskortiert. Sch. und D. haben sich freiwillig für diesen Dienst beworben, einen Lehrgang absolviert. Ageeb hat kaum noch zwei Stunden zu leben. Für seinen Tod macht der Staatsanwalt Sch. und D. mit verantwortlich. Zusammen mit ihnen sitzt auch Jörg S. auf der Anklagebank. Er ist dem Abschiebekommando kurzfristig als dritter Mann zugeteilt worden, weil Ageeb als besonders gefährlich eingestuft wurde.

Der Richter macht es zügig

Alle drei sind wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Seit September läuft ihr Prozess vor der 21. Große Strafkammer des Frankfurter Landgerichts. Der Vorsitzende Richter Heinrich Gehrke hat ihn vom Amtsgericht übernommen. Dort war das Verfahren im Frühjahr geplatzt. Gehrkes Kollege Henrici hatte die minder schwere Anklage der fahrlässigen Körperverletzung nicht aufrechterhalten wollen, sondern an die nächsthöhere Instanz verwiesen.

Gehrke, war zu hören, einigte sich im Vorfeld mit den Verteidigern auf eine zügige Verhandlung. Es ist der letzte Prozess vor seiner Pensionierung. Er erwirkte bei der vorgesetzten Behörde der Beamten, die noch vor dem Amtsgericht wegen einer eingeschränkten Aussagegenehmigung geschwiegen hatten, eine erweiterte Aussagegenehmigung.

Unter Gehrkes stringenter Führung entstand vor Gericht allmählich ein Bild des Geschehens am Tattag. Reinhold Sch. erzählte im Gerichtssaal, er habe Ageeb zum ersten Mal in der Zelle gesehen, als er diese zusammen mit D. öffnete: „Sonst war keiner da. Ich habe mich verantwortlich gefühlt.“ Die Beamten lockerten die Fesseln, nahmen den Helm ab, holten sich die Erlaubnis, den Gefangenen auf die Toilette zu führen. Ageeb sei eigentlich ruhig gewesen, man habe sich mit ihm unterhalten.

Er habe nur immer wieder gesagt, dass er „nicht fliegen will“. Er habe im Sudan keinen Militärdienst geleistet und wolle „lieber sterben“, als das zu tun. Aber er habe versprochen, sich nicht körperlich zu wehren, wenn er vor dem Abflug mit dem Flugkapitän sprechen dürfe.

Die Fahrt über das Rollfeld zur hinteren Gangway der Lufthansa-Maschine sei problemlos verlaufen. Ohne Kapitänsgespräch aber habe Ageeb nicht einsteigen wollen, sich nicht zureden lassen und „in Absicht der Selbstverletzung“ mit seinem Kopf gegen die Autoscheibe geschlagen. Deshalb habe man ihm den Helm wieder aufgesetzt.

Im Sitz verschnürrt

Am Ende wird Ageeb die Flugzeugtreppe hinaufgetragen. Er war, erinnert sich Flugkapitän Eike R., verschnürt „wie ein Teppich“. Er wird von uniformierten Kollegen des Kommandos auf dem mittleren Platz in der letzten Reihe festgezurrt. Taner D., der wie seine zwei Mitangeklagten in Zivil mit ins Flugzeug stieg, sagt: „Die nicht so schönen Sachen machten immer die Uniformierten.“ Einsatzleiter Sch. wunderte sich damals, sagt er auch, dass die Abschiebung überhaupt durchgeführt wurde: „Ich dachte, der wird nicht mitgenommen.“ Normalerweise lehne die Lufthansa solche brachial durchgeführten Transporte ab. Kapitän Eike R., der den Gefangenen besichtigte, aber nimmt keinen Anstoß.

Richter Gehrke stellt fest, dass Ageeb gefesselt gewesen sei wie ein „Wurstpaket“. Und zählt immer wieder auf, als könne er es nicht fassen: die Fußknöchel mit Kabelbindern gefesselt, die Handgelenke ebenfalls, die Oberarme auf dem Rücken miteinander verbunden, um die Unterschenkel schlingt sich ein Seil, das mit dem Sitzgestänge verbunden ist, Ageebs Oberkörper ist mit Klettband am Rücksitz fixiert, darüber der Sicherheitsgurt festgeschnallt, der Helm sitzt auf dem Kopf.

Wegen eines Gewitters verschiebt sich der Start. Es ist heiß, manchmal weint Ageeb, manchmal ist er ruhig, er bettelt um Hilfe, schreit, er wolle nicht fliegen, oder, so hören es Zeugen: „Ich bekomme keine Luft.“

Das Bordpersonal reicht Getränke, Ageeb bekommt seines wegen des Helmes mit einem Strohhalm gereicht. Die Beamten wischen ihm den Schweiß ab und reden „permanent beruhigend“ auf ihn ein, sagt Sch. Als das Flugzeug anrollt, als es abhebt, irgendwann in diesen Minuten, versucht Ageeb, aufzuspringen. Die drei Beamten reagieren sofort. S. und D. sitzen neben dem sich verzweifelt in seinen Fesseln windenden Mann. Sch., der auf dem Vordersitz Platz genommen hat, langt über die Rückenlehne. Zu dritt pressen sie Ageeb herunter, drücken seinen Kopf auf die Knie.

Ageeb schreit, ein Mädchen in der Nachbarreihe weint, dessen Mutter, so Sch., „schrie vielleicht noch lauter“. Man sei „erschrocken“, habe „Panik“ und das Gefühl gehabt, „die Kontrolle“ zu verlieren: „Es war ein Kampf.“

Warum habe man ihn nicht einfach schreien lassen, fragten Richter und Beisitzer immer wieder. Was hätte Ageeb denn ihrer Meinung nach anrichten können? Taner D. beschreibt die Gemengelage seiner Gefühle. Er selbst habe die Fesselung vor dem Start als zu rabiat empfunden, sie gelockert, auch das Klettband gelöst und gehofft: „Vielleicht merkt er's nicht.“ Außerdem habe er geglaubt, dass der Mann spätestens nach dem Start Ruhe gebe werde: „Vielleicht waren wir doch zu gutmütig gewesen.“

Jörg S. beschreibt, dass Ageeb während des Niederdrückens plötzlich schlaff geworden sei. Man habe ihn aufgerichtet: „Seine Augen sahen ziemlich gebrochen aus.“ Drei Ärzte unter den Passagieren kämpften mit den Fesseln, konnten nicht alle lösen, scheiterten mit Reanimationsversuchen. Jörg S.: „Jetzt war ich völlig fertig und setzte mich in die nächste Reihe und sprach kein Wort mehr.“

Die Beamten schildern ihrer fünftägigen Ausbildung zum so genannten Flugbegleiter unisono als völlig unzulänglich. Am ersten Tag Anreise, dann Erfahrungsaustausch, Rollenspiele, schon am dritten Tag die Gelbfieberimpfung, danach habe man sich schonen müssen, habe nur einige Handgriffe und gar nichts über medizinische Notfälle gelernt, viel aber über Reisekostenabrechnungen und Papierkrieg.

Der Vorsitzende Richter Gehrke hält sich mit seinem Kommentar nicht zurück. Anweisungen haben gefehlt, die Ausbildung war mangelhaft, die Vorgesetzten desinteressiert.

Aamir Ageeb war laut Obduktionsbefund ein gesunder Mann. Er ist durch „positional asphyxia“, lagebedingten Erstickungstod, die Kombination von Fesselung und Einschränkung der Atmung durch Herunterdrücken des Oberkörpers, gestorben. Diese Todesursache war 1999 nach Erfahrungen in den USA auch in der deutschen Fachliteratur dokumentiert. Keiner der Lehrgangsteilnehmer aber kann sich erinnern, dass dies Gegenstand der Ausbildung war. Einige bestätigen allerdings, dass das „Runterdrücken“ zwar nicht auf dem Ausbildungsplan stand, aber praktiziert wurde. Man habe immer wieder von erfahreneren Kollegen gehört, dass das die „Abschüblinge“ hilflos mache und ruhig stelle. Über das Todesrisiko habe man nichts gewusst.

Dank der Aussagegenehmigung sitzen auch die Vorgesetzten vom Bundesgrenzschutz mit auf der Anklagebank. Sie müssen sich indirekt dafür verantworten, dass sie ihre Beamten allein gelassen, Kontroll- und Weisungsverpflichtungen vernachlässigt haben. Dienstanweisungen und Belehrungsbogen über das Verhalten bei Abschiebungen gab es durchaus. Nur, wer sie gelesen und vielleicht auch verstanden hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Die Bogen müssen abgezeichnet und abgeheftet werden, doch der Ordner ist verschwunden, eventuell, wie Gehrke vermutet, „vernichtet“ worden, eventuell aber auch nie vorhanden gewesen.

Nur ein Satz aus den Verhaltensmaßregeln, die halbjährlich und vor Abschiebeflügen von den Beamten unterzeichnet werden sollten, ist allen im Gedächtnis geblieben: „Keine Abschiebung um jeden Preis.“ „Den Satz“, den „Spruch“ haben sie alle gekannt.

Kritik am Vorgesetzten

Gehrke ging mit dem Vorgesetzten Michael A., der auch mit an Bord war, ins Gericht. Der hatte sich weder um die Fesselung gekümmert noch über den Abbruch der Abschiebung nachgedacht. Gehrke: „Keine Abschiebung um jeden Preis? Aber der, der zuständig ist, kümmert sich nicht drum?“

A. sagt, er habe seine Beamten nicht kontrollieren wollen und seine Aufgabe anderswo gesehen. Der Transport habe „schnell gehen“ müssen, weil das Rollfeld von der Besucherterrasse einsehbar gewesen und damit „Öffentlichkeit“ möglich gewesen sei. „Gewisse Kreise“ hätten gegen die Abschiebung demonstrieren können.

Das Gericht wirkt einigermaßen verdutzt: „Auf dem Rollfeld?“, fragt der Beisitzer, gar im Flugzeug? Spontandemonstranten mit einem Last-Minute-Ticket nach Kairo? A. bejaht trotzig. Der Beisitzer verzichtet auf weitere Fragen: „Jetzt hat es mir die Sprache verschlagen!“ Die des Vorsitzenden Gehrke ist dafür umso deutlicher. Er nennt den BGS einen „Sauhaufen“, den er vor dem Verfahren „nicht für möglich gehalten“ hätte.

Staatsanwalt Justus Koch forderte in seinem Plädoyer je ein Jahr Gefängnis mit Bewährung. Die Beamten seien überfordert gewesen und hätten in Panik gehandelt. Er warf der BGS-Führung „massives Organisationsverschulden“ vor. Die Verteidiger plädierten gemeinsam auf Freispruch. Das Urteil wird heute gesprochen.