Rodeo mit schwerem Gerät

Der Nabel der Rhönrad-Welt liegt in Bleidenstadt. Nur logisch, dass die Sportlerinnen und Sportler des kleinen Örtchens auch die deutschen Meisterschaften dominieren

TAUNUSSTEIN taz ■ Die Turnhalle im Sport- und Jugendzentrum ist festlich geschmückt. Wie man so eine Mehrzweck-Turnhalle eben festlich schmücken kann. Auf der Längsseite stehen ein paar Buchsbäume. Eine Art Altar mit den Siegerpokalen ist vor dem Notausgang platziert. An der Stirnwand baumeln Fahnen der Bundesrepublik Deutschland, des Landes Hessen und der Stadt Taunusstein.

Vom Tisch des Kampfgerichts grüßt eine digitale Anzeigetafel mit rot durchlaufendem Schriftzug: „Herzlich willkommen zu den deutschen Mannschaftsmeisterschaften in Taunusstein“. Gegenüber, auf der erhöhten Tribüne, sitzen knapp 200 Zuschauer und betrachten mit Kennermiene die Darbietungen. Es herrscht Stecknadel-fallen-hören-können-Atmosphäre.

Auf der grau-blauen Schwingbodenfläche zeigt die Einheimische Kira Schneggenburger (17) ihre „Gerade-Kür“. Das wuchtige Doppel-Rad mit 2,15 Metern Durchmesser und 50 Zentimetern Breite rollt wie auf Schienen durch die Halle. Die zierliche Kira turnt mal innen, mal außen, mal oben, mal unten. Es sieht sehr gut aus. Sie sieht sehr gut aus. Auch der Abgang gelingt. Es ist ein strahlender. 9,4 Punkte. Mit Abstand die beste „Gerade“ des Tages. Trainer Wolfgang Bientzle (37) ist sehr zufrieden. Und das fachkundige Heimpublikum jubelt.

Der Name des Sportgeräts verweist zwar auf ein anderes hessisches Mittelgebirge, aber der Nabel der Rhönradwelt ist zweifellos Taunusstein. Genauer gesagt Bleidenstadt, ein Ortsteil der 27.000-Einwohner-Gemeinde bei Wiesbaden. In den vergangenen 30 Jahren haben die Athleten des TSV Taunusstein-Bleidenstadt 43 WM-Titel, 26 Europameisterschaften und runde 250 Deutsche Meisterschaften zusammengeturnt. Den Taunus-Verein „FC Bayern des Rhönrads“ zu nennen, würde zweifellos den Münchnern schmeicheln.

Kira Schneggenburger ist das klassische Beispiel einer Taunus-Rhönrad-Karriere. Schon in der Grundschule kam sie bei einem Schnupperkurs mit dem Gerät in Kontakt, denn Exweltmeister und Sportlehrer Bientzle sorgt dafür, dass alle Bleidenstadter Kinder mindestens einmal im Leben Rhönrad turnen. Kira zeigte Talent. Also wurde sie richtige Rhönradturnerin und ist heute selbst auch schon Jugendtrainerin – Erfahrung und Können werden von Generation zu Generation weitergereicht. So geht Nachwuchsförderung.

Was beim ersten Hinschauen an possierliche Hamster im Rad erinnert, wird schnell ernst zu nehmender Leistungssport. Drei- bis viermal Training pro Woche ist Pflicht, Krafttraining, Trampolin und Geräteturnen gehören zum Repertoire. Kira Schneggenburger ist zweifache deutsche Jugendmeisterin, Jugend-Vizeweltmeisterin und in ihrem Heimatort ein kleiner Star. Schon in Wiesbaden aber, wo sie zur Schule geht, „kann kein Mensch was mit einem Rhönrad anfangen“. Doch auch daran arbeiten sie: „Mister Rhönrad“ Wolfgang Bientzle sorgt mit einer Veranstaltungsagentur für öffentlichkeitswirksame Showauftritte der Rhönradler bei Galaveranstaltungen und Bällen.

Bei den Mannschaftsmeisterschaften sind acht Teams angetreten, Frauen und Männer starten gemeinsam. Vier Turner gehören zu einer Riege, sechs Übungen werden geturnt – zweimal Spirale, zweimal Musikkür, einmal Gerade, einmal Sprung. Die besten fünf werden gewertet und zusammenaddiert. Beim „Sprung“ lässt der Sportler das Rad wegrollen, rennt hinterher, springt auf und dann möglichst spektakulär wieder ab. Bei der „Spirale“ wird das Gerät auf die Kante gedreht und vom Artisten, der überstreckt im Rad liegt, in einer Mischung aus Hula-Hoop und Rodeo am Rotieren gehalten. Die „Musikkür“ erinnert an Rhythmische Sportgymnastik mit schwerem Gerät.

Am Ende der zweistündigen Finalrunde erringt der TSV Taunusstein den Meistertitel mit klarem Vorsprung. Und als wäre dieser hohe Erfolg nicht Debakel genug für die anderen, präsentieren die Sieger als Zugabe auch noch einen Showauftritt: zehn Rhönradler, alle ganz in Weiß, eingetaucht in spektakuläres Showlicht, tanzen und turnen zu „When Doves Cry“. Da wird es richtig feierlich im Sport- und Jugendzentrum. Zwischen Buchsbäumen und Turnbänken. Vizemeister wird übrigens Bayer Leverkusen. ACHIM DREIS