Intensitäten schwillen an und ab

Wo Versenkung und mathematische Präzision sich begegnen: Karlheinz Stockhausen, der große Vorkämpfer der Neuen Musik, gastierte mit „Inori – Anbetungen für Orchester und zwei Tänzer“ im Haus der Berliner Festspiele

Etwas fehlt im Foyer der Berliner Festspiele. Nirgendwo ist ein Plattenstand aufgebaut oder wenigstens ein Büchertisch mit seinen „Texten zur Musik“. Dabei ist Karlheinz Stockhausen mehr independent als jede New Yorker Garagenrockband: Es gibt kaum Aufnahmen von ihm bei Amazon oder bei den großen Kulturkaufhäuser zu kaufen, stattdessen wird der Vertrieb von seinem Wohnsitz im rheinischen Kürten aus abgewickelt. So hat Stockhausen seit 1991 im Eigenverlag über 100 CDs veröffentlicht, sein Gesamtkatalog umfasst 293 Werke. Vor kurzem erst kam der letzte Teil des Zyklus „Licht, die sieben Tage der Woche“, an dem er 25 Jahren gearbeitet hat, in Las Palmas zur Uraufführung.

Schon wegen dieser enormen Materialfülle könnte Stockhausen unentwegt touren. Mit seiner Komposition „Inori – Anbetungen für Orchester und zwei Tänzer“ war er zuletzt 1978 in Berlin zu Gast. Wenn man nach den grauen Backenbärten urteilt, dann hat ihn vermutlich damals schon ein großer Teil des Publikums gesehen. Für die jüngere Generation ist er zumindest der Godfather der elektronischen Musik, Jahrzehnte vor Techno. Ein bisschen mag der Andrang aber auch daran liegen, dass Stockhausen nach dem 11. September in Hamburg für Furore sorgte, als er den Schock angesichts der WTC-Attentate mit der Wirkung von Kunst verglich. Das hat ihn schnell in die Nähe eines spenglernden Untergangsästheten gerückt, da will man wissen, ob nicht doch ein gehobener apokalyptischer Ton beim großen Vorkämpfer der Neuen Musik mit anklingt.

Dabei ist „Inori“ kein Clash, sondern als euphorischer Aufruf zur Versöhnung gemeint. Die Anbetung stellt eine Art Quersumme aus jeglicher religiösen Praxis dar – ein Musik gewordenes Happening aller Konfessionen. Zwei Tänzer führen auf einer erhöhten Bühne eine Vielzahl von immer wiederkehrenden Gesten vor, die für Stockhausen Bewegungsabläufe beim Gebet symbolisieren. Hinduistisch kommt die reduzierte Gebärdensprache daher, mit der Kathinka Pasveer und Alain Louafli zu Beginn auf der Bühne im Schneidersitz meditieren; später erinnert ihre demütig zum Boden geneigte Haltung an den Islam, und die in Brusthöhe gefalteten Hände passen zum Christentum.

Die Musik lässt sich während dieser Exerzitien allerdings keiner Kirche zuordnen. Bewusst baut Stockhausen für seine Komposition auf abstrakte Verfahren: Nur die Höhe, Länge und Lautstärke der Klänge variiert, es ist ein An- und Abschwellen von Intensitäten, mit denen er die Prozession akustisch umsetzt. Klangschalen schwingen die einzelnen Passagen mit einem metallenen Ton ein, mal folgen feine monotone Triller eines Waldhorns, mal wird eine kurze Melodie vom Xylofon hinzugefügt, über die sich Streicher mit Fermaten lagern. Aller Klang soll Begleitung für die Tänzer sein, soll den Ritualcharakter des Geschehens untermalen – wie bei einer Litanei versuchen Musik und Bewegung miteinander in Ekstase zu geraten.

Trotz seiner Begeisterung für Entrückung ist Stockhausen jedoch ein durch und durch an der Mathematik geschulter Ingenieur. Wo immer er in seiner Musik auf die, wie er sagt, „geistliche Dimension“ abzielt, werden Rhythmen oder harmonische Übergänge klar strukturiert, wird gezählt und gemessen. Der Ablauf ist in fünf Abschnitte unterteilt, die zehntelsekundengenau vom Orchester eingehalten werden. Stockhausen selbst sitzt am Mischpult und korrigiert das sirrende Oberton-Feedback, Peter Eötvös dirigiert die Nuancen bei jedem Einsatz der Instrumente, und die Tänzer bewahren sich noch im Rausch der Versenkung die Präzision eines Uhrwerks. In Stockhausens Kirche herrscht Disziplin, die man zum Selbstvergessen braucht, da ist kein Platz für Innerlichkeit. Nach 75 Minuten verhallt „Inori“ mit indischen Schellenringen, außen rechts, im hintersten Raum der Bühne. Das Klingeln bleibt im Kopf, auch eine Stunde später.

HARALD FRICKE