Unsoziales Göttingen

Die Stadt kürzt einem Verkäufer des Straßenmagazins „Tagessatz“ die Sozialleistungen und gerät somit erneut in die Kritik. Ein Versehen, sagt der Stadtsprecher, die einbehaltene Unterstützung werde dem Mann ausgezahlt

Die Stadt Göttingen ramponiert weiter ihr Ansehen. Nach der Affäre um Leistungskürzungen für einen Hartz-IV-Empfänger wegen Bettelns ist das Sozialamt gestern erneut in die Kritik geraten. Die Behörde hat einem Verkäufer des Straßenmagazins Tagessatz Einnahmen aus dieser Tätigkeit auf die Sozialhilfe angerechnet.

Die derzeit neun Verkäufer des Tagessatz, meist sind es Sozialhilfeempfänger, dürfen vom Verkaufspreis des Magazins in Höhe von zwei Euro die Hälfte behalten. Wie in anderen Städten, gibt es auch in Göttingen eine Vereinbarung zwischen Stadt und Straßenmagazin, wonach die Erlöse aus dem Heftverkauf nicht auf die Sozialleistungen angerechnet werden.

Das ist jedenfalls die Theorie. In der Praxis hat sich das Sozialamt in mindestens einem Fall nicht an diese Regelung gehalten und einem Verkäufer Erlöse aus dem Vertrieb doch auf die Sozialhilfe angerechnet. Ein Stadtsprecher begründete dies mit einem Versehen. Die einbehaltene Unterstützung werde dem Mann in Kürze ausgezahlt.

Der Trägerverein des Tagessatz erklärte dagegen, es bestehe in Göttingen „seit kurzer Zeit die Tendenz, dass Verkäufer zur Veröffentlichung ihrer Verkaufserlöse angehalten werden“. Bereits im Januar hatte der Verein zu dem nun publik gemachten Fall eine Anfrage an die Stadt gestellt, aber erst jetzt sei „Bewegung in die Sache gekommen“.

Bewegt hat sich die Stadt Göttingen wohl, weil das Sozialamt in der vergangenen Woche mächtig unter Druck geraten war. Ein Mitarbeiter der Sozialverwaltung hatte einen Hartz-IV-Empfänger beim Betteln beobachtet und in seiner Blechbüchse 7,20 Euro gezählt. Dem Mann wurde dann auf Basis einer „Hochrechnung“ des Sozialamtes die monatliche Zuwendung um 120 Euro gekürzt.

Nach Protesten des Betroffenen reduzierte die Stadt die Kürzungen auf 50 Euro, sie verteidigte ihr Vorgehen jedoch zunächst als rechtmäßig. Am Montag kündigte Oberbürgermeister Wolfgang Meyer (SPD) dann an, Zuwendungen aus Bettelei künftig nicht mehr auf Sozialleistungen anzurechnen. Er ordnete an, alle entsprechenden Bescheide aufzuheben und zu korrigieren.

Heute beschäftigt sich der Sozialausschuss des Göttinger Rates mit den Vorfällen. Dabei könnten auch weiter zurück liegende Fälle zur Sprache kommen. Vor einigen Jahren hatte die Stadt ohne Warnung und Anhörung der Betroffenen Konten und Guthaben von Sozialhilfeempfängern gepfändet, die Sparguthaben verschwiegen hatten. Das Verwaltungsgericht erklärte diese Pfändungen später für rechtswidrig. REIMAR PAUL