Ungehörte Seherin

Die Eitle, der Vamp, die Hyäne, die Löwin: Facetten einer Visionärin präsentiert Andreas Kriegenburg in seinem „Kassandra“-Projekt, das jetzt am Thalia in der Gaußstraße Premiere hatte

von KARIN LIEBE

Ich bin, war Kassandra. Mit diesem schlichten Anfangssatz, die Worte überlappend gesprochen von vier auf dem Boden liegenden Frauen, ist schon fast alles gesagt, was die Tragik der antiken Frauengestalt Kassandra ausmacht. Kassandra sieht in die Zukunft, ohne dass jemand ihren Prophezeiungen glaubt, und ohne sie ändern zu können. So sieht sie auch ihrer eigenen Ermordung hilflos entgegen.

Eine Tragik, der Andreas Kriegenburg im Thalia in der Gaußstraße auch ihre leichten Seiten abgewinnen kann. Kassandra Wolfs, Pardon, Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Anfang der 80er Jahre in Zeiten des Kalten Krieges und des Wettrüstens als Friedens- und Frauenemanzipationsmahnmal geschrieben, wollte Kriegenburg für seine Inszenierung ursprünglich als Ausgangsmaterial befragen. Doch jetzt ist daraus ein „Projekt“ ohne Textvorlage geworden, ein assoziativer Reigen über den Kassandra-Mythos, über schöne Augen, gefährliche Frauen und visionäre Politik, über Verführung und Vergewaltigung, mal ernsthaft, mal verspielt, mal wild, mal nachdenklich. Ein kurzweiliger, nur eine Stunde andauernder Reigen, der Lust macht auf mehr.

Mehr antike Frauenstoffe gibt es im Thalia in der Gaußstraße tatsächlich zu sehen: Bei der streng minimalistischen Elektra, seit Ende 2001 unter der Regie von Dimiter Gotscheff im Spielplan, hat Kriegenburg das blutrote Bühnenbild gebaut, bei der verspielteren Medea, seit Anfang 2002 im Programm, führt er auf derselben Bühne auch Regie.

Beim jüngsten Antikenprojekt hat Kriegenburg die Bühne wieder blutrot ausgeschlagen. Diesmal allerdings bietet eine Wand, mit weißen Stoffbahnen nur lose verhüllt, auch Auswege aus der Gewaltspirale. Leila Abdullah, Doreen Nixdorf, Verena Reichhardt und Victoria Trauttmansdorff, alle im Blümchenkleid und schwarzem Männerjackett, zeigen schon rein äußerlich die Doppelgestalt der Kassandra: ihre erotische Anziehungskraft und ihre dunkle Prophetinnengabe.

Freies Assoziieren übers Sehen und die Seherin – das sieht bei Kriegenburg so aus: Victoria Trauttmansdorff erzählt über ihre Problemzonen: die Augen. Nicht, dass sie schlecht gucken könnte, nein, sie findet ihre tief liegenden Augen nicht schön. Und tackert sich zwei schöne blaue Augen aus Pappe unter die Stirn. Verena Reichhardt erzählt voller Trauer, wie sie als Kassandra von Aias vergewaltigt wird. Später mutiert Reichhardt vom Opfer zur wilden Hyäne: Zu Heavy-Metal-Musik zieht sie Grimassen, wirft das lange Haar ekstatisch um sich. Huch, ich bin ein wilder Löwe! Die anderen drei Kassandras feuern sie dabei an oder betrachten sie amüsiert-distanziert.

Viele Facetten von Kassandra, dies zeigt Kriegenburgs Inszenierung, gründen auf allgemein menschlichen Erfahrungen. Wie dem Krieg. Doreen Nixdorf erzählt in ihrem Monolog mit versteinertem Gesicht von der Gewöhnung an Tod und Zerstörung. Er ist zum Alltag geworden. Alltag ist heute auch, dass politische Visionen ungehört bleiben. Die vier Kassandras sitzen nebeneinander an einem langen Tisch, alle Mikros und ein Schildchen vor sich, auf dem „Kassandra“ steht. Und alle reden gleichzeitig und so laut, dass kaum ein Wort zu verstehen ist. „Krieg“, „wir müssen endlich“, „sozial“. Dazu hauen sie die Faust auf den Tisch, unterbrochen von Applaus aus der Retorte. Der schließlich so heftig donnert, dass er die mahnenden Rufe übertönt. „Sorry, Kassandra“, tut mir Leid, dass wir nicht auf dich gehört haben, singen dann Frida und Agneta. Und die vier Kassandras stimmen ein.

nächste Vorstellungen: 8. 11., 21.30 sowie 16. 11., 19 Uhr, Thalia in der Gaußstraße