Eine Braut schlägt zurück

AUS NUKUS PETER BÖHM

Der Moskwitsch hält mit quietschenden Reifen. Drei Männer springen aus dem Wagen. Sie rennen auf die junge Frau zu, die versucht zu fliehen, klammert sich verzweifelt an den Gartenzaun, direkt neben der Schule, ihrer Schule. Seit zwei Jahren unterrichtet die 24-Jährige die siebten Klassen einer Mittelschule am Rande von Nukus, der Hauptstadt Karakalpakstans, einer autonomen Region im Norden Usbekistans. Die Mittagspause ist vorbei, gleich kommt das Stundenklingeln. Sie schreit, doch nützen tut es nichts. Einer der Männer packt ihre Arme, die zwei anderen ihre Beine. Sie werfen sie ins Auto „wie ein eine Kuh oder ein Schaf“, wie ihr Anwalt später erzählen wird, und rasen davon. Das war im März. Die Sonne schien.

Heute, ein halbes Jahr später, sitzt Muchabat Ilmuratowa * im Haus ihrer Eltern und kämpft mit den Tränen. Sie kannte die drei Männer. Nur vom Sehen. Einer, Ahmed Khainasarow, fährt ein Sammeltaxi auf der Strecke von ihrem Elternhaus in die Stadt. Das, was sich wie Menschenraub anhört, war in Wirklichkeit seine Art, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er sagt, er würde es wieder tun.

Ilmuratowa wurde Opfer einer Brautentführung – einer in Zentralasien weit verbreiteten Tradition. Aus der Reihe dieser Praxis fällt Ilmuratowas Fall nur insofern, als dass sie nicht in die Ehe mit ihrem Entführer eingewilligt hat.

Da sie so laut geschrien und geweint hat, brachten die Entführer die junge Frau nicht wie üblich in das Elternhaus des Bräutigams, sondern zu seiner Schwester in ein Dorf außerhalb von Nukus. Dort hätten seine weiblichen Verwandten auf sie eingeredet: „Ja, weine nur! So ist es richtig. Wir haben auch geweint, und heute haben wir Kinder und führen eine glückliche Ehe.“

Ilmuratowa schüttelt den Kopf. Sie gibt nicht viel auf Traditionen. Aber viele hier in dieser Gegend haben nicht viel mehr als das. In Nukus, rund 1.200 Kilometer nordwestlich von Taschkent, haben viele nichts. Mit fast 200.000 Einwohnern ist die Stadt eine dieser postsowjetischen Orte, wo vor 40, 50 Jahren außer ein paar Hütten gar nichts stand und im Stadtkern heute nur unzählige Reihen heruntergekommener Plattenbauten. Wo sich damals 150 Kilometer nördlich noch der riesige Aralsee erstreckte, ist nicht viel geblieben als eine von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln vergiftete Wüste. Ein Viertel der zwei Millionen Karakalpaken sind ins ölreiche Kasachstan ausgewandert, um dort ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Ilmuratowa hat Usbekistan bisher noch nie verlassen. Einmal im Jahr fährt sie mit ihren Schulkindern für ein paar Tage zu einem Ferienlager in die Nähe von Taschkent. Schon nach ein paar Tagen, sagt sie jedoch, sehnt sie sich wieder nach Karakalpakstan zurück.

Parteien verhandeln

Nach der karakalpakischen Tradition müssen die Entführer die Eltern der Braut informieren, sobald sie sie in ihr Haus gebracht haben. Dann verhandeln beiden Parteien über die Bedingungen der Hochzeit. Im Fall von Ilmuratowa riefen jedoch nicht die Entführer die Eltern an, sondern die Schüler. Sie hatten die Entführung ihrer Lehrerin mit angesehen. Über das Autokennzeichen fand ihre Mutter die Adresse heraus und schließlich auch das Versteck ihre Tochter. Die weinte noch immer und sagte damals, was sie auch heute noch sagt: „Ich liebe diesen Mann nicht.“ Und dabei blieb es.

Das zentrale Element, das die Frauen in Karakalpakstan fast immer in die Ehe einwilligen lässt, ist, dass der Tradition nach eine junge Frau als verheiratet gilt, wenn sie ein paar Stunden im Haus eines fremden Mannes verbrachte. „Dann besteht der Verdacht, dass sie nicht mehr Jungfrau ist“, erläutert Klara Utaberganowa, die Chefin der Nichtregierungsorganisation „Frau und Familie“, die sich gegen Brautentführungen engagiert. „Wenn Frauen entführt wurden, stehen sie unter Druck, ihren Entführer zu heiraten, denn einen anderen Mann würden sie kaum mehr finden.“

Muchabath Ilmuratowa ist groß und schlank, trägt Hosen oder ein westlich geschnittenes Kostüm, Goldschmuck und helle Strähnen im schwarzen Haar. Wenn sie von ihrer Entführung spricht, dann meist mit tränenerstickter Stimme, hin und wieder versagt sie ihr ganz, und man sieht sie nur geflüsterte Worte formen. Doch wenn sie sagt: „Ich wollte nicht mit diesem Mann zusammenleben. Was die Leute gedacht haben, war mir egal“, klingen die Worte bestimmt.

In den ersten drei Tagen nach der Entführung erschien täglich eine Delegation von zwei Dutzend Verwandten, Bekannten und Nachbarn des Entführers vor ihrem Haus, um sie um Vergebung zu bitten. Natürlich wollten sie sie auch umzustimmen, doch noch in die Ehe einzuwilligen. Eine andere Delegation ging zu ihrer Schule.

Erst vor kurzem, sagt Ilmuratowa, sind die Gerüchte in ihrer Umgebung verstummt: „In den Augen der Leute war ich es, die etwas falsch gemacht hat. Für sie war ich eine Erpresserin, eine Frau, die einem Mann erst schöne Augen gemacht hat und ihn dann hat abblitzen lassen, weil er nicht genug Geld hatte.“ Der Vater des Entführers sagt noch immer, sie habe großes Talent zur Schauspielerin: „Dass sie sich gegen die Entführung gewehrt hat, besagt gar nichts. Genau das wird doch von den Frauen erwartet.“

Doch Ilmuratowa gab dem Druck nicht nach. Weil sie Blutergüsse am gesamten Körper und Schmerzen im Bauch hatte, erstattete sie Anzeige bei der Polizei. In dem Prozess sagten einige ihrer Schüler und Anwohner der Schule gegen die drei Männer aus. Diese wurden zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Anführer muss drei Jahre lang monatlich etwa fünf Euro zahlen, seine Komplizen nur zwei Jahre lang.

Polizei schaut weg

„Verfahren in diesen Fällen sind in Karakalpakstan selten, und wenn doch, dann ist eine Geldstrafe der Normalfall“, sagt Gulnara Bazarbaewa, die Oberste Richterin am Amtsgerichtes in Nukus. Die Brautentführungen scheinen auch soweit gesellschaftlich akzeptiert, dass die Sicherheitskräfte nicht eingreifen. „Ich habe schon oft Entführungen gesehen“, zitierte vor kurzem eine Lokalzeitung einen nicht namentlich genannten Polizeihauptmann aus Nukus. „Ich greife nicht ein, denn ich weiß, dass in den meisten Fällen beide Seiten einverstanden sind. Und wenn nicht, dann würden sie denken, dass ich auf einer Seite Partei ergreife.“

In Ilmuratowas Verfahren hat einer der zwei Komplizen ausgesagt, dass Khainasarow, der Brautentführer, schon 30 Jahre alt ist und sehr schüchtern. Weil Khainasarow immer noch nicht verheiratet war, habe er vorgeschlagen, ihm zu helfen, eine Frau zu besorgen. Wie Ilmuratowa wohnt Khainasarow in einem großen, flachen Haus in einem Vorort von Nukus. Doch ohne Teppichen an den Wänden und Geschirr in den Wohnzimmerschränken. Bei ihm herrscht Kargheit.

Der 30-jährige hat Motoröl an den Fingern und sein Atem riecht nach Wodka. Und wenn von der Entführung spricht, rollt über sein Gesicht ein breites Grinsen, das mal verschämt, mal dreist wirkt. Er sagt, dass er Ilmuratowa vom Sehen kenne und die Leute in ihrer Nachbarschaft nach ihr gefragt hat. „So ist das üblich bei uns.“ Er ist noch immer überzeugt, dass sie ihn heiraten wollte, ihre Eltern jedoch die Hochzeit vereitelt haben, weil er den üblichen Brautpreis von umgerechnet 2.000 Euro nicht zahlen konnte. Aber er habe doch Gewalt anwenden müssen, um Ilmuratowa ins Auto zu bekommen. Unsicheres Grinsen: „So ist unsere Tradition!“ Würde er wieder eine Entführung machen? Dreistes Grinsen: „Na klar, das werde ich. Die fünf Euro, die ich monatlich bezahlen muss, tun mir nicht weh.“ Das nächste Mal würde er jedoch kein Auto mehr nehmen, sondern zu Fuß kommen. Warum? Unsicheres Grinsen: „Na, dann kommt die Frau vielleicht mit.“

In dem einen Punkt der karakalpakische Tradition ist Muchabat Ilmuratowa mit ihrem Entführer einer Meinung. Sie sagt: „Solange die Frau einverstanden ist, sind die Entführungen nicht schlecht. Solche Fälle wie meiner sind ja auch selten.“

Auf den Einwand, dass es aber doch diese Tradition ist, die den gewaltsamen Raub möglich macht, lacht sie zum ersten Mal in dem Gespräch. Und erzählt von der Zerrissenheit vieler Frauen – von der Scham, ein rückständiges Ritual über sich ergehen lassen zu sollen, von dem Stolz, dass ein Mann es für sie gewagt hat. Dann sagt sie: „Die Entführungen sind Tradition, und eine Tradition kann man nicht ändern.“

* Name geändert