Solidarität reicht über die Große Mauer

Die Berliner Studentin Xiong Wei kam nach ihrer Rückkehr nach China ins Arbeitslager, weil sie eine Anhängerin der Falun-Gong-Sekte ist. Nun haben frühere Kommilitonen ihre Freilassung und Ausreise durchgesetzt

Ohne ihre Berliner Freunde hätte die 33-jährige Chinesin Xiong Wei ihre Haftzeit in China vielleicht nicht überlebt. Die Wirtschaftsingenieurin, die in den90er-Jahren an der TU in Berlin studiert hatte und danach in ihre Heimat zurückkehrt war, ist von früheren Kommilitonen freigekämpft worden. Ende September durfte Xiong Wei nach Berlin ausreisen.

Ihr Engagement für die taoistisch-buddhistische Falun-Gong-Sekte hätte Xiong Wei in China beinahe Kopf und Kragen gekostet. Während ihrer Studienzeit in Berlin hatte die junge Frau die Sekte kennen gelernt und Gefallen an den Falun-Gong-Atemübungen gefunden.

„Ein chinesischer Kommilitone gab mir 1996 ein Buch über Falun Gong,“ erinnert sich Xiong. Schon als Kind sei sie immer kränklich gewesen. Zwei Monate nach Beginn ihrer Falun-Gong-Übungen sei es ihr wesentlich besser gegangen. Im Frühjahr 1997 nahm Xiong zum ersten Mal an einem Treffen von Falun-Gong-Anhängern in Berlin teil. Später meditierte sie mit Gleichgesinnten am Wochenende im Tiergarten. Nach dem Ende ihres Studiums ging sie nach Peking zurück und fing dort bei einem deutschen Unternehmen an.

Zwei Jahre später, am 5. Januar 2002, wurde Xiong festgenommen. „Ich hatte in Peking auf der Straße Flugblätter gegen die Unterdrückung von Falun Gong verteilt. Plötzlich stießen mich drei Polizisten in Zivil in ein Taxi und brachten mich zur Wache“, schilderte die junge Frau nach ihrer Rückkehr nach Berlin den Beginn einer Tortur, die mehr als zwei Jahre dauern sollte.

Falun Gong ist in China seit dem Sommer 1999 als „gefährliche Sekte“ verboten. Tausende Anhänger verschwanden in Arbeitslagern. Die KP-Führung fühlte sich von der Falun-Gong-Sekte herausgefordert, die nach eigenen Angaben 70 bis 100 Millionen Anhänger zählt und sich an dem im US-Exil lebenden Guru Li Hongzhi orientiert. Auch in Europa werden Falun Gong sektenartige Züge bescheinigt. Ein Verbot in Deutschland fordert aber niemand.

Xiong Wei weist den Sektenvorwurf zurück. „Wenn wir durch Falun Gong entspannter leben können, ist das doch gut.“ In Peking hatte sie Falun Gong in ihrer Wohnung zunächst hinter geschlossenen Vorhängen praktiziert. Doch die Regierungspropaganda provozierte ihren Protest: „Wir haben doch nichts Falsches gemacht.“ Xiong kündigte gar ihren Job, um Ärger für ihre Firma bei einer möglichen Verhaftung zu vermeiden.

Nach ihrer Festnahme wurde ihre Wohnung durchsucht. Auch ihr Mann wanderte 80 Tage ins Gefängnis. Während der U-Haft wurde Xiong misshandelt. „Ich musste stundenlang hocken. Wollte ich aufstehen, wurde ich geschlagen.“ Sie werde mit heißem Wasser überbrüht, wurde ihr gedroht. „Das ging 14 Tage so, bis ich nicht mehr konnte. Dann habe ich die Erklärung gegen Falun Gong unterschrieben.“

In der U-Haft musste Xiong zuerst 6.000, später 8.000 Essstäbchen pro Tag verpacken. Nachdem sie – ohne Prozess und ohne Rechtsbeistand – zu zwei Jahren „Umerziehung durch Arbeit“ verurteilt worden war, musste sie täglich mindestens zehn Stunden stricken – Pullover, Schals, Handschuhe „Die waren alle für den Export“, so Xiong.

In dem Lager im Pekinger Außenbezirk Daxing waren bis zu 900 Insassinnen, überwiegend von Falun Gong. „Standhafte wurden mit Schlafentzug bestraft, sie mussten bis zu 40 Tage lang stehen“, berichtet Xiong. Durch Schläge des Wachpersonals sei es auch zu Todesfällen gekommen.

Xiong hatte Glück. In Berlin setzten sich Freunde für sie ein. Die HU-Doktorandin Zheng Zhihong, die 1998 von Xiong in Falun Gong eingeführt worden war, mobilisierte mit anderen eine große Solidaritätskampagne. 60.000 Postkarten wurden an das Arbeitslager geschickt. Auf einer Webseite und bei einer Veranstaltung im Roten Rathaus wurde auf den Fall aufmerksam gemacht. Bundesregierung, TU und die Menschenrechtsorganisation IGFM setzten sich für Xiong ein. „Wenn ich im Lager anrief, merkte ich, welche Angst die Behörden dort vor internationaler Aufmerksamkeit haben“, sagt ihre Freundin Zheng. Xiong wird nun wahrscheinlich in Berlin leben bleiben. Sie sagt: „Ich habe keine Fehler gemacht.“

SVEN HANSEN