Ein Dorf fühlt sich als Verlierer

Tiftlingerode bei Göttingen liegt an der ehemaligen Grenze zur DDR. Nach dem Mauerfall sei es mit dem 1000-Seelen-Nest bergab gegangen, klagen die Einwohner

Tiftlingerode dpa ■ Früher verlief der Todesstreifen 500 Meter hinter Tiftlingerode. Die Grenze zur DDR ist weg, doch nicht nur sie. In dem kleinen „West-Dorf“ bei Göttingen gibt es keinen Lebensmittelladen mehr, keine Post, keine Bank, keinen Bäcker. „Alles verschwunden. Selbst ein Bier kann man hier nicht mehr trinken“, sagt Gerd Goebel. Die letzte Kneipe habe vor zwei Jahren dichtgemacht.

Auch was der ehrenamtliche Bürgermeister sonst aus dem 1000-Seelen-Dorf im niedersächsischen Untereichsfeld berichtet, klingt wenig optimistisch. „Die jungen Leute ziehen weg, die Geburtenrate sinkt, Handwerksbetriebe machen dicht.“ Der Ort betrachtet sich als Verlierer der deutschen Einheit.

„Vor der Wende gab es hier acht selbständige Fliesenleger“, erinnert sich Peter Gehrt, der zusammen mit seiner Frau einen Reparaturbetrieb für Hydraulik-Maschinen führt. „Heute sind es noch zwei“. Und warum? Eine große Fliesenlegerfirma im thüringischen Teil des Eichsfeldes mache die kleine Konkurrenz aus Niedersachsen mit Niedrigpreisen kaputt. Über die ungleichen Voraussetzungen im niedersächsischen und im thüringischen Teil des Eichsfeldes beklagt sich auch Frank Günther. Seine Familie betreibt eine Straßen- und Tiefbaufirma. Vor zehn Jahren hatte er 65 Mitarbeiter, heute sind es 35. „Die Ostfirmen bekommen gewaltige Zuschüsse für Maschinen. Sie kriegen günstig Grundstücke, erhalten Landesbürgschaften und zahlen viel niedrigere Löhne. Wie sollen wir da konkurrenzfähig bleiben?“

Bürgermeister Goebel sagt, in Tiftlingerode sei man nicht gegen die Einheit. Er finde das Gerede unerträglich, man solle die Mauer wieder errichten. Aber die einstige Euphorie ist verflogen. „Denn vor allem unsere Wirtschaft ist Verlierer der Einheit.“ Der Ort gehört politisch zu Duderstadt. Nach Aussage des dortigen Bürgermeisters Wolfgang Nolte sind aus der Gemeinde 50 Betriebe nach Osten abgewandert, viele wegen der höheren Förderung. Die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt seien von 5,5 Millionen Euro auf unter zwei Millionen im Jahr gesunken.

Wie viele Firmen insgesamt aus den alten in die neuen Länder gezogen sind, ist unklar. Die Statistikämter können keine Zahlen nennen, und auch bei den Industrie- und Handelskammern werde darüber nicht Buch geführt, sagt ein Sprecher. Die Situation sei aber vermutlich überall im früheren Grenzgebiet ähnlich wie im Eichsfeld.

Ganz ohne positive Perspektive scheint man in Tiftlingerode aber nicht zu sein. Zwölf Familien haben dieses Jahr neu gebaut – auch mit Hilfe ostdeutscher Firmen. Matthias Brunnert