berliner ökonomie
: Gut bekocht von Tante Irina

Eine Existenz im Sinne von Hartz IV ist hart, aber mit russischer Familie zu überstehen

„Wovon lebt eigentlich Peter?“ Das fragte sich diesen Sommer die Independent-Szene auf der Suche nach der Lebensgrundlage jener „hippen Faulpelze“ aus der Hauptstadt. Tja, wovon lebt er nun eigentlich? Keine Ahnung. Mich als uncoolen Workaholic darf man so was nicht fragen. Ich weiß nicht einmal, wovon ich selbst lebe. Besser die Steuerfachgehilfin meines Vertrauen anrufen: Viertausend letztes Jahr, aha. Ach so, plus, dann ist gut – ganz ohne Krankenkasse zu leben wäre auch ungesund. Der Rest ergibt dann minus Miete, geteilt durch 365 den Tagessatz von Hartz IV – aber man soll nicht meckern. Außerdem versorgt einen so ein Leben auf Abruf auch mit den tollsten Storys, die man dann in seinem Lieblingscafé gegen einen Kaffee tauschen kann.

Eine davon begann damit, dass mein preisgünstig erworbenes Handy, das eher einer ukrainischen Übungshandgranate gleicht, klingelte. Eine semiprominente Bekannte, für die ich in Zeiten akuten Geldmangels aktuelle Living-Trends in London und New York recherchiere, war dran: „Jemand für dich, sieht übrigens gut aus!“ Am anderen Ende war eine amerikanische Stimme mit russischem Akzent, die Berlin erklärt bekommen wollte.

Das ließ sich einrichten, sogar kurzfristig. Insbesondere, da die junge Dame einen nicht so schlecht geschriebenen Debütroman mitgebracht hatte und auch sonst charmant bis interessant war und ist. Also bewunderte man gemeinsam John Everett Millais’ präraffaelitische „Ophelia“ im Alten Museum und feierte mit den Mittis im Volkspalast, checkte die Galerienszene südlich und nördlich der Torstraße, sagte Judy hallo und wem nicht noch alles. Und dann war da auch noch die Kastanienallee! Einziges Problem: Dauernd im Taxi durch die Stadt zu gondeln kostete auf die Dauer ganz schön Geld.

Da Geschenke bekanntlich die Freundschaft erhalten, erlaubte ich mir noch, einen Mikro-Flaubert (Danke Rogner & Bernhard!) zu überreichen – woraufhin sie mir erklärte, ich hätte mit sofortiger Wirkung einen Zweitwohnsitz am Ocean Boulevard, Miami. Was gut passt – schließlich ist Florida sowohl bei den prominenten Vertretern meiner Berufsgruppe (Kulturschaffender) als auch meiner Einkommensklasse (Florida-Rolf) sehr beliebt.

Obendrein erklärte sie mich zu einem Familienmitglied ehrenhalber und so etwas hat Konsequenzen. Beispielsweise in Gestalt meiner neuen Tante Irina, die die Hälfte ihre Lebens an den reputabelsten Konservatorien der UdSSR zugebracht hat und nun an einer Musikschule in Südwestberlin verzogenen Gören Klavierstunden gibt. Oder ihr Onkelchen – wunderbarer Mensch! Obwohl, wovon lebt eigentlich Pjotr? Irgendwas mit Spielhallen, besser nicht nachfragen. Schließlich kocht Tante Irina die besten Fleischbällchen von ganz Georgien und von so einer Tupperware-Dosenfüllung lebt man ca. eine Woche.

Noch toller: Die Geschichten, die Irina erzählt und gegen die ich meine müden Anekdoten vom Tee im Garten des Buckingham Palace kaum ordentlich eingetauscht bekomme. Der Großvater der jungen Dame zum Beispiel war ein ziemlicher Dickkopf: Ein moldawischer KGB-Kommandant, der unvorsichtigerweise seine Mutter beleidigt hatte, kassierte als Quittung ein fliegendes Tintenfass und wagte, obwohl er normalerweise zehn Leute pro Tag wegen weitaus geringerer Obstruktionen an die Wand stellen ließ, nicht mal Repressalien. Respekt.

Dann ist da auch noch die Frau, die ich gerne irgendwann Schwiegermutter nennen würde – sofern niemand der Beteiligten was dagegen hat. Wie ihre Berliner Schwester ist sie hoch begnadet, hoch gebildet und tief unterbezahlt – und das in Connecticut. Dennoch scheint es zumindest ab und an für glamourösen Urlaub zu reichen, bei dem sogar an die Fremdenführer gedacht ist, wie sich an einem netten Abend in großer Runde beim Chinesen in Hohen-Neuendorf zeigte: Nach einer glücklichen Ente und den berühmten zwei Minuten Schweigen hob sie zu bedeutsamen Worten an: „Junger Mann, ich muss Ihnen etwas sagen.“ Oh, Gott – erst reich werden, dann heiraten? „Das Geschenk, das ich Ihnen jetzt gebe, darf nach alter russischer Tradition niemals leer sein.“ Eine Wodkaflasche?! Nicht ganz. Ein elegantes Lederportemonnaie für den Herrn von Welt, nach alter russischer Tradition bereits gefüllt. Und das nicht mit Kopeken.

Wie die Geschichte ausgegangen ist? Nach dem abschließenden Großfrühstück im Café Einstein nahm mich Tantchen beiseite, setzte einen bedeutungsvollen Gesichtsausdruck auf und sagte: „Übrigens junger Mann, was Sie noch wissen sollten – alle Ihre Erwartungen werden in Erfüllung gehen. Wenn Sie wissen, was ich meine.“ Nein, wusste ich nicht. Eine russische Volksweisheit, ein mehrfach übersetztes hebräisches Sprichwort, eine Autosuggestionshilfe aus dem chinesischen Glückskeks vom Vorabend oder etwa –? Am Abend wusste ich endlich, was Sache war: Wie erwartet, schmeckten auch die russischen Paprikaschoten ganz hervorragend.

GUNNAR LÜTZOW