Bushs besserer Irak

Die Afghanen lehnen die heutige Präsidentschaftswahl nicht ab, aber sie sind auch nicht euphorisch. Für die Zukunft wünschen sie sich vor allem mehr Sicherheit

Manche Beobachter sagen zynisch, der heimliche Präsident Afghanistans sei der US-Botschafter

Nein, diese Wahl ist weder frei noch fair. Wer das erwartet, ist ein Träumer oder misst Afghanistan mit der Elle der westlichen Demokratien. Wahlen am Hindukusch funktionieren aber ganz anders als in Europa: Statt des individuellen Wahlrechts dominiert die kollektive Wahlempfehlung, man könnte auch sagen: der Wahlzwang durch Mullahs und Stammesälteste. Und dass in Afghanistan keiner frei wählen kann, der eine Waffe im Rücken wähnt, ist ohnehin klar.

Sowohl die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, als auch die Europäische Union haben für sich daraus früh die Konsequenz gezogen, keine oder nur wenige Wahlbeobachter nach Afghanistan zu schicken. Diejenigen Beobachter, die trotzdem im Land sind, werden kaum über den Tellerrand der Hauptstadt Kabul hinausschauen können. Und: Sie werden keine offiziellen Berichte verfassen.

Neben der Sicherheit gibt es dafür noch einen anderen Grund: Wer über unsaubere Wahlen Bericht erstatten muss, der gerät damit auch in die Gefahr, die Legitimität von Hamid Karsai zu beschädigen. Das aber will der Westen nicht. Die ehemaligen Warlords und die übrigen Kandidaten, die sonst noch zur Wahl stehen, sind Amerikanern wie Europäern nicht geheuer. Karsai ist loyal. So loyal, dass manche Beobachter zynisch sagen, der heimliche Präsident Afghanistans sei der amerikanische Botschafter in Kabul.

OSZE und EU schreiben womöglich auch deshalb keine offiziellen Berichte über diese Wahl, um sich nicht selbst ein Zeugnis inkonsequenter Entwicklungspolitik auszustellen. Immerhin wurde der Prozess der Wahlregistrierung von Jahresanfang bis August dieses Jahres vom Ausland mit insgesamt 200 Millionen US-Dollar bezuschusst. Für die Wahlbeobachtung und ein sinnvolles Netz an Personen, die diese sicherstellen könnten, sind bisher gerade einmal 500.000 Dollar geflossen.

Etwa 150 von insgesamt 15.000 Wahlbeobachtern schickt Europa nach Afghanistan, 150 bei insgesamt 5.000 Wahllokalen. In einigen Teilen des Landes wird es überhaupt keine Wahlbeobachtung geben, nicht einmal durch Einheimische. Zwei Drittel der afghanischen Wahlbeobachter sind ohnehin Mitglieder politischer Parteien. Deren Unabhängigkeit dürfte, nach allen Regeln der Politik, eher relativ sein.

Vertreter der Europäischen Union in Kabul haben angesichts dieser Zahlen und Verhältnisse so kurz vor der Wahl offenbar ein schlechtes Gewissen bekommen. Sie versuchen sich jetzt in Scheckbuchdiplomatie und Aktivismus. Man will wenigstens als Förderer afghanischer Initiativen gut dastehen. Eine Dame, die für die EU in Kabul tätig ist, drängt dieser Tage eine afghanische Stiftung, die Wahlbeobachter entsendet, sie solle doch mit einer Frau als Pressesprecherin ins Rennen gehen. Das ist sexy und fortschrittlich, auch wenn die Dame, die für die EU tätig ist, das nicht wörtlich so gesagt hat. Allein: Die angesprochene Afghanin will nicht Frontfrau ihrer Organisation in den Medien sein, mit Verweis auf bestehende Traditionen in ihrem Land. Das kann man verstehen.

Das Beispiel ist nicht untypisch: Frauen in den Vordergrund zu stellen wird von Politikern wie westlichen Hilfsorganisationen forciert. In dem für April 2005 neu zu wählenden afghanischen Parlament sollen zwei Frauen aus jeder Provinz sitzen, das sind fast 25 Prozent insgesamt. Eine enorme Herausforderung für die afghanische Gesellschaft mit ihrem Rollen- und Religionsverständnis. Die westliche Haltung zur Frauenförderung in Afghanistan mag honorig sein, in ihr stecken aber auch Gefahren.

Wer die Traditionen der afghanischen Familie, in deren Umfeld diese Politik ihre Folgen zeitigt, überfordert, sät Wind – und könnte Sturm ernten. Was wir uns vor dem Hintergrund der neuen afghanischen Verfassung, die die Gleichberechtigung der Geschlechter propagiert, als Entwicklung in Jahren wünschen, wird bestenfalls Jahrzehnte brauchen. Afghanistan braucht Zeit. Wie lange haben wir übrigens gebraucht, bis ein Viertel unserer Parlamentarierinnen Frauen waren?

Die Afghanen sind dieser Wahl nicht abgeneigt, aber sie sind auch nicht euphorisch. Für die Zukunft wünschen sie sich vor allem mehr Sicherheit. Die Nato hat die Isaf-Truppen nicht wie versprochen bis zur Wahl verstärkt. Bei näherer Betrachtung kann Isaf die afghanische Bevölkerung auch wenig schützen, weil ihr Auftrag lautet, die Interimsregierung zu stabilisieren. Der Ausweg sind nicht mehr Soldaten, sondern mehr Mittel. Wenn nur 1 oder 2 Prozent des Geldes für Militär in Afghanistan in den Wiederaufbau gingen, ergäben sich ganz neue Perspektiven.

Die meisten Soldaten in Afghanistan kommen aus den USA. Es sind über zehntausend, und sie werden von Monat zu Monat unbeliebter in der Bevölkerung. Die Jagd nach Ussama Bin Laden ist aus Sicht der meisten Afghanen keine Priorität und das unwirsche Vorgehen der GIs dabei schon gar nicht. Die Frage sei erlaubt: Wie kommt es, dass die stärkste Armee der Welt, hoch technologisiert und mit imposanten Geheimdiensten, es in drei Jahren nicht geschafft hat, die Überreste des Taliban-Regimes und von al-Qaida dingfest zu machen?

Viele Afghanen spekulieren, dass Amerika langfristig im Land bleiben will, mit militärischen Stützpunkten, zwischen Pakistan und Iran, das das nächste Opfer sein könnte. Die Auswechslung von Ismail Khan, dem „Löwen von Herat“, ist womöglich ein Vorspiel dafür. Khan hatte sich geweigert, den Amerikanern die Verfügungsfreiheit über einen Luftwaffenstützpunkt zu übereignen.

Frauen in den Vordergrund zu stellen wird von Politikern wie westlichen Hilfsorganisationen forciert

Das Ansehen von Isaf und damit auch der deutschen Soldaten ist vom Auftreten der Amerikaner derzeit noch weitgehend unberührt. Aber auch hier die Frage: Inwieweit machen sich andere Nationen in Afghanistan zum Komplizen einer solchen Politik? Die Arbeitsteilung von amerikanischer Zuständigkeit für das Grobe und europäischem Einsatz als „humanitärer Polizei“ ist keine Politik für die Dauer. Sie ist, wie die derzeitige afghanische Regierung, eine Übergangslösung.

Die jetzige Wahl sollte ursprünglich im Juli stattfinden. Sie wurde verschoben. Die ersten Parlamentswahlen in Afghanistan sollen im April 2005 stattfinden. Auch sie sollten verschoben werden, mahnen Experten bereits jetzt an. Organisatorisch und logistisch ist die Aufgabe kaum lösbar, es drohen lange Wahlzettel mit Namen von über hundert Kandidaten, und das bei einer Bevölkerung aus mehrheitlich Analphabeten. Den Vereinten Nationen kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Sie haben die jetzige Wahl mehr schlecht als recht organisiert, wenn man UN-internen Kritikern Glauben schenken darf.

Zur Entlastung sei gesagt: Vor allem die Amerikaner haben auf dem Datum Oktober bestanden. Wenn es ruhig bleibt über die Wahltage am Hindukusch, wird George W. Bush zumindest dies in seinem Wahlkampf präsentieren können: Afghanistan, der bessere Irak. MARTIN GERNER