Im Treck nach Norden

Ein paar Tage Zeit in den Ferien und noch keinen Plan? Wir empfehlen: drei Tage auf der Insel Neuwerk vor der Cuxhavener Küste. Die spröde Schöne zieht einen nach und nach in ihren Bann

„Sitzen bleiben, bis ich die Tür aufmache!“, raunzt der Kutscher bei der Ankunft„Sie wollen hier mehrere Tage bleiben?“ – „Warum nicht?“

aus Neuwerk Elke Heyduck

Es liegt vor einem wie einer dieser bunt-belebten Plätze auf den Gemälden der alten flämischen Meister. Das Watt vor Sahlenburg erstreckt sich in die Tiefe und ins Blaue. Überall stehen Menschen – einzelne und Grüppchen, zuweilen kläfft ein Hund zwischen den wie appliziert scheinenden Gestalten. Und ganz hinten, ungefähr da, wo die Grenze zwischen Watt und Himmel sein muss, erkennt der Betrachter Dutzende von Pferdekutschen – wie aufgefädelt an einer langen Kette. Eine gute Stunde später sind sie schließlich da, die Kutschen von Neuwerk.

Pferde wie Kraftpakete ziehen die Kutschen bis zum Parkplatz am Strand von Sahlenburg. Muffige Kutscher schnauzen die Gäste an: „Sitzenbleiben, bis ich die Tür aufmache!“ Es sind zu 80 Prozent Rentner und Pensionäre, die dann schließlich mit dem Segen des Kutschers von den Wägen steigen. Die runter, wir rauf.

Als wir endlich oben sitzen, das Gepäck verstaut haben in einem Extra-Planwagen – wir sind die einzigen, die Schlafsäcke mitnehmen – liegt schon ein Teil der Reise hinter uns.

Zwei Frauen, zwei Kinder, vier Fahrräder – so sind wir am frühen Morgen in Bremen aufgebrochen. Regionalbahn nach Bremerhaven, umsteigen und weiter nach Cuxhaven. Von dort sind es noch gute zehn Kilometer bis Sahlenburg – wenn man den schönen Weg immer am Deich lang nimmt. Für Kinder ab fünf oder sechs Jahren gar kein Problem.

Und dann also warten auf die Kutsche, ein bisschen im Watt popeln, die vielen Häufchen der kleinen Wattwürmer bewundern und ein bisschen später die wunderbar drallen Hintern der großen Kutschpferde. Mit einem Ruckeln geht es los – fast zwei Stunden wird die Überfahrt dauern. Begleitet wird der Treck nach Norden von den Wanderern, die die dreizehn Kilometer bis Neuwerk übers Watt gehen. Das würden unsre Kinder noch nicht schaffen – also bleiben wir bei den Rentnern und fühlen uns ein bisschen wie auf Butterfahrt. Rund 120.000 Tagesgäste im Jahr besuchen die autofreie Insel, so sagt es die Statistik. An manchen Sommertagen machen sich bis zu 1.000 Wattwanderer auf den Weg und bis zu 45 Wagen ziehen wie eine Karawane durchs Watt.

Nur dass einen drüben weder unbekanntes Land noch Oasen erwarten. Stattdessen ist der erste Eindruck der Insel: trist. Grasdeich bis zur steinernen Mauer am Meer. Kein Strand, nur ein paar traurig im Niedrigwasser dümpelnde Boote. Und dann unsre Unterkunft. „LPG“, murmelt meine Begleiterin und in der Tat verbreitet der betonierte Vorhof mitsamt seinen neuen Backsteingebäuden drumrum alles andre als Inselcharme. „Und sie wollen hier mehrere Tage bleiben?“, fragt freundlich eine ältere Dame im Friesennerz über’m geblümten Gehrock. „Warum nicht?“, heißt die trotzige Antwort. Irgendwas geht schließlich immer.

Zum Beispiel das: Die Kinder sind schon seit Stunden dabei, in der Scheune Betten zu bauen – aus Stroh. Richtige Warften schichten sie auf, mit Kopfkissen und einem Wall, damit man nachts nicht runterkullert. Prima. Warm, gemütlich, und Mäuse haben wir auch noch keine gesehen. Auf Neuwerk gibt es mehrere Heuhotels. Als trockene Alternative zum Zeltplatz oder einfach weil es Spaß macht. Richtig preiswert sind sie zwar nicht, aber doch weit unter einem Hotelzimmer.

Bevor wir aber abends in unsre Betten steigen, ist der erste Inselrundgang fällig. Und siehe da: Bezaubernde Ecken locken, die man der klitzekleinen Insel so nicht zugetraut hätte. In der Inselmitte erhebt sich groß und alt und mächtig der Turm. „Nige wark“ wurde das Bollwerk gegen die Elbpiraterie genannt und gab so der Insel ihren Namen: Neu-Werk. Gebaut anno 1310 hält er Wacht über einen kleinen, pittoresken Platz mit Selbstbedienungskneipe, Schullandheim und Souvenirladen. Er ist das älteste Gebäude Hamburgs. Genau. Neuwerk gehört zur Freien und Hansestadt Hamburg.

An den folgenden Tagen entdecken wir noch mehr. Einen Friedhof der Namenlosen, der im verwunschenen Wäldchen der angeschwemmten Seeleute gedenkt, ein Badehaus aus dem vorigen Jahrhundert. Wir sehen Wolken von Vögeln aus den Salzwiesen aufsteigen, wir sehen zahlreichen und überaus langbeinigen Feldhasen hinterher und fühlen mit den Vogelpärchen, die sich hysterisch bemühen, uns von ihrem Gelege abzulenken.Wir gehen baden in der Fährrinne der „Alten Liebe“, wir sammeln Muscheln, die sich an den Landgewinnungspflöcken im Norden der Insel festklammern. Wir essen den besten selbstgebackenen Rhabarber-Schmand-Kuchen der Welt, wir tätscheln Pferden aller Art die sehnigen Hälse.

Erst am letzten Tag stehen wir vor der Infostation zum Hamburger Wattenmeer. Was könnte man nicht alles noch machen: Wanderungen zu den Seehundbänken, Bootsfahrten zur Vogelinsel Scharhörn, Wattwanderungen extra für Kinder und und und. Für uns zu spät.

Wir fahren zurück, werfen einen letzten Blick auf unsre Scheune und den betonierten LPG-Platz und im Nieselregen gehts zurück nach Sahlenburg. Eine Rückfahrt, die weit aufregender ist als der Hinweg bei strahlendem Sonnenschein. Die Räder verschwinden fast ganz im Wasser. Schlaglöcher sorgen für gellende Frauenstimmen auf den Sitzbänken und sonore Pferde-Beschwörungsformeln vom Kutschbock herab. Zwischendurch finden die Tagesgäste Zeit, über unsre Schlafsäcke zu staunen: Drei Tage Neuwerk – ist das nicht langweilig? Nein, überhaupt nicht, schütteln wir die Köpfe, und zupfen uns gegenseitig die letzten Strohhalme aus den Haaren. Elke Heyduck

Kutschfahrten unbedingt rechtzeitig buchen. Anbieter nennt das Fremdenverkehrsamt Cuxhaven (☎ 04721/ 04-0), oder unter www.cuxhaven.de.