Clean Rooms

Mrs Ross hat ihr Auskommen. Für 29 Dollar bietet sie saubere, klimatisierte Räume. Standard im Süden Texas’ mit seinen heißen Nächten. Menschen und Motels zwischen USA und Mexiko. Reiseeindrücke an der Grenzlinie zwischen oben und unten

Im Gepäck ein paar Liter Wasser und den Traum von acht Dollar fünfzig die Stunde

von ROBERT SCHOEN

Mrs Ross wollte die beiden Kätzchen eigentlich nie haben. Bis heute wartet die Einundsiebzigjährige auf der Hollywoodschaukel vor ihrem Motel darauf, dass sie endlich abgeholt werden. Aber die Frau, die am nächsten Tag wiederkommen wollte, hat sich nie mehr blicken lassen. Weder hier im einzigen Motel von Comstock, Texas, am Highway 90 West noch sonst irgendwo in dem 150-Seelen-Dorf, das unweit der Grenze zu Mexiko brav seinem Tagwerk nachgeht. So wie Mrs Nora B. Ross, Witwe. Vor ein paar Jahren hat sich die umtriebige Motelbesitzerin magnetische Visitenkarten machen lassen. Die haften jetzt an Kühlschränken und den Metallverkleidungen der Funkgeräte in den klimatisierten Trucks, die hier ab und zu vorbeidonnern. Viele sind das nicht mehr. Die meisten bevorzugen auf ihrem Weg von San Antonio nach El Paso den Interstate 10, sechzig Meilen nördlich. Aber Mrs Ross hat ihr Auskommen. Für 29 Dollar bietet sie klimatisierte Räume. Standard im Süden Texas’, wo es im August selbst nachts noch 30 Grad hat. Außerdem gibt es Kabel-TV und – das ist das Wichtigste – Clean Rooms.

Auf Sauberkeit legt die kleine, resolute Dame besonderen Wert. Sauberkeit ist ihr Kapital. Das wissen die Leute und deshalb kommen sie auf der Durchreise immer mal wieder ins Comstock Motel am Highway 90 West. Touristen, Vertreter, Mexikaner.

Alfredos Zimmer im vierten Stock des Hotels Isabel la Católica, Mexiko-Stadt, hat keine Klimaanlage. Aber es kostet auch nur 115 Peso die Nacht, 10 Euro. Alfredo kommt aus Guatemala. Dort warten Frau und Kind. Einen Job hat er nicht, dafür 500 Dollar in der Tasche. Zusammengeliehen für die große Reise. Eine Reise, auf der das Isabel la Católica nur Zwischenstation ist. Alfredo will weiter nach Norden. Nächste Etappe: Altar, in der Wüste von Sonora. Von dort bis zur Grenze nach Arizona sind es dann noch fünfzig Meilen.

In einem Café in der historischen Altstadt von Mexiko-Stadt, es heißt La Blanca, die Weiße: Neonbeleuchtung, orangefarbene Stühle, blasse Kellnerin. Alfredo trägt ein Marilyn-Manson-T-Shirt. „Ich mag seine Musik“, erklärt er dem Deutschen. „Weißt du, was der Typ mal gesagt hat? Er sagt: „Die Amerikaner sind süchtig nach ihren Ängsten. Und wenn sie den Teufel ausgemacht haben, dann können sie sich selbst zum guten Menschen stilisieren. Wir Latinos sind der Teufel, wir sind die Jauche, mit denen der Gringo seine Felder düngt.“ Alfredo ist wütend, aber seine Stimme bleibt ruhig. Was er sagt, ist längst bedacht und entschieden: zuerst bei Nacht und Nebel über „la linea“, die Grenze, bis hoch nach Denver, dann weiter nach Nordosten, New York. Da hat Alfredo Verwandte, bei denen er untertauchen kann. Und einen Job.

Alfredo hat zwar studiert, aber das zählt nicht im Big Apple, nicht wenn man aus Mittelamerika kommt und keine Papiere vorzeigen kann. Was zählt, sind acht Dollar fünfzig die Stunde, cash. Was zählt, sind zwei Jahre Arbeit und der Traum vom Neuanfang in Guatemala.

In Comstock, Texas, ist inzwischen die Sonne untergegangen. Zikaden, ab und zu das Vorbeirauschen eines Trucks, im Käfig neben dem Fernseher ein Kanarienvogel. Mrs Ross füllt sorgsam den Meldezettel aus. Kleine, gerade Buchstaben. Der Deutsche sieht sich um: mit Rosen bestickte Kissen auf der durchgesessenen Couch. Verblichene Seidenblumen. Tapeten vergilbt. Es riecht nach Kater. An der Wand Fotos von früher. Zwischen den Fotos eine gerahmte Urkunde, Unterschrift: Paul M. Berg, Chief Patrol Agent, Border Patrol, Del Rio, Texas, 3. Februar 2003.

Mrs Ross entschuldigt sich. Das Lesegerät für die Kreditkarte ist im Augenblick leider defekt. Ginge auch Bargeld? Ja, selbstverständlich. Die alte Dame lächelt und bedankt sich. Sie mag die Deutschen. Immer korrekt. Nie Probleme. Wenn alle so wären, dann gäbe es hier Texas nicht solchen Ärger.

„Die Urkunde? Ach, da sind sie plötzlich hier aufgetaucht, drei Mann hoch, aus Dallas, und haben sie mir überreicht. Außerdem 100 Dollar in bar.“

Eine Woche nach dem Kaffee im La Blanca treffen sich der Deutsche und der Marilyn-Manson-Fan aus Guatemala auf dem Marktplatz von Altar im mexikanischen Bundesstaat Sonora und trinken ein Agua de Jamaica mit Eis. Sechzehn Uhr, Außentemperatur 43 Grad. Im Schatten. Früher sind die Menschen auf der Suche nach dem Glück jenseits des Zauns nach Tijuana im äußersten Westen des Landes gefahren oder nach Matamoros im Osten. Aber die USA haben aufgerüstet, vor allem in den großen Städten. Man hat genug von den illegalen Einwanderern, vor allem aus Lateinamerika. Schätzungsweise zwei Millionen pro Jahr, genau weiß das keiner. Massive Grenzbefestigungen. Nachtsichtgeräte. Hubschrauber. Bewegungsmelder. Hundertschaften von Beamten der Border Patrol. Das treibt die „indocumentados“, die Menschen ohne Visum, zu tausenden in die Wüste. In entlegene Regionen.

Nach Sonora zum Beispiel, wo das eigentliche Problem nicht die Überquerung der Grenze ist. Das schafft jeder, selbst die junge Mutter mit Kind aus dem bettelarmen Chiapas im Süden. Das eigentliche Problem hier sind die Hitze und die riesigen Distanzen. Die Frage: Wie komme ich unentdeckt in die großen Städte des Nordens? Eine Frage, die Alfredo in der Nachmittagsglut auf dem Marktplatz von Altar mit einem Wort beantwortet: Dinero. Geld. Es ist alles organisiert. Nach seiner Ankunft auf dem kleinen Busbahnhof hatte sich Alfredo umgehört. In den Bars und Kneipen, auf dem Marktplatz. Gesucht und gefunden: einen Coyoten. Einen Schlepper, von dem er nur hoffen kann, dass er ihn nicht verarscht, sondern wie vereinbart bis nach Denver bringt. Dutzende von diesen Coyoten oder „Polleros“, Geflügelhändler, – wie sich selbst gerne nennen – lungern hier rum.

Altar ist ein Dorf, das vom Traum der begrenzten Möglichkeiten lebt. Preis des Traums 1.500 Dollar, alles inklusive: Transport zur Grenze, drei Tage und Nächte Fußmarsch durch die Wüste, Weiterfahrt in der Schlafkoje eines bestochenen US-Truckers, Unterkunft in einem halbwegs sicheren Haus in Denver. Das ist das Paket. 300 Dollar sofort, den Rest bei Ankunft. Alfredo hat mit seinem Onkel in den USA telefoniert, der streckt ihm das Geld vor. Bis der Onkel kommt und bezahlt, wird man Alfredo in dem Haus in Denver festhalten.

„We call them wetbacks.“ Mrs Ross ist in Plauderlaune. Nicht viel los heute. Außer dem Deutschen nur noch ein Handelsvertreter aus San Antonio. „Wetbacks“ nennt man sie in Texas, „Mojados“ in Mexiko. Die Nassen, die Triefenden, weil sie mit nichts als Hoffnung beladen durch den Rio Grande waten. Ein Großteil schafft es bis in die Autowaschanlagen und Dienstbotenverschläge des Nordens. Ein paar bleiben auf der Strecke, im Süden, in Texas zum Beispiel. Bei Mrs Nora B. Ross im Comstock Motel am Highway 90 West. „Sie waren zu sechst, und ich hab kein Wort verstanden von dem, was sie gesagt haben, da hab ich mir gedacht, ah, die kommen aus Mexiko. Ich hab sie dann gefragt, ob sie Papiere dabeihätten. Ja, ja, haben sie gesagt. Und dann haben sie mich gefragt, ob sie mein Telefon benutzen könnten. Oh, sag ich, wo wollen Sie denn hintelefonieren? Nach Dallas, haben sie gesagt. Sag ich, das müssen Sie mir aber bezahlen. Ja, ja, sagt er und wirft mir einen Zehndollarschein hin. Und dann haben sie einen anderen Coyoten angerufen, dass er sie abholen kommt. Da hab ich den Zettel mit der Nummer heimlich eingesteckt, kassiert für das Zimmer und hab ihnen die Nummer 6 gegeben. Als sie draußen waren, hab ich gleich die Border Patrol angerufen und denen alles gesteckt. Halbe Stunde später waren sie da und die Wetbacks einkassiert. Ich hatte ja keine Ahnung. Na, und einen Monat später kamen dann diese hohen Tiere aus Dallas. Also, die kamen hierher und haben mir die Urkunde vorbeigebracht. Und hundert Dollar. Für die Hilfe bei der Ergreifung von gefährlichen Schmugglern.“

Während Alfredo von seinen Plänen erzählt, denkt der Deutsche an Statistik. Mehr als 150 Menschen tot. Allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres. Das ist Rekord. Die meisten von ihnen verdurstet im „Corridor of Death“, in der Wüste von Arizona, zurückgelassen von gleichgültigen Schleppern beim viel zu langen Marsch durch die Hitze. Während Alfredo vorrechnet, wie lange er braucht, um seinem Onkel das geliehene Geld zurückzuzahlen, denkt der Deutsche an ein Gespräch mit Robin Hoover, einem Pfarrer aus Tucson. Reverend Hoover kämpft mit dutzenden von Freiwilligen gegen die Statistik. Ihre Organisation, Humane Borders, stellt Wassertanks in der Wüste auf. Wasser für Menschen wie Alfredo, der heute Nacht mit einem Coyoten, drei Frauen, sechs Männern und einem Kind loslaufen wird. Im Gepäck ein paar Liter Wasser und den Traum von acht Dollar fünfzig die Stunde.