An den Urnen von Kuba

aus Baku MERLE HILBK

Es ist halb vier Uhr morgens. Die Auszählung der Stimmen im Kreis Kuba ist beendet. Amerikaner, Engländer, Slowaken, Weißrussen, Deutsche sitzen im Speisesaal des „Kuba Hotel“ vor großen Platten mit Kebabs, Bratkartoffeln und Geflügelsalat und versuchen, sich gegenseitig mit Geschichten aus den Wahllokalen Aserbaidschans zu übertrumpfen. „Als die Kommission das Protokoll nicht ausfüllen wollte, haben wir einfach eine Thermosflasche und Butterkekse vor uns aufgebaut und gewartet“, berichtet ein Brite. „Bei uns haben sie sich so über die Regularien gestritten, dass die Polizei kommen musste“, erzählt ein Amerikaner. „Geprügelt haben sie sich bei uns!“, ereifert sich ein Slowake. Nur John Earls und Dorothee Anklam schweigen. Die Auszählung in ihrem letzten Wahllokal ging reibungslos vonstatten. „Ein bisschen mehr Aufregung hättest du schon gern gehabt, was?“, raunt der Brite seiner deutschen Begleiterin zu und grinst.

Vor 18 Stunden sind die zwei mit einem Fahrer und einer Dolmetscherin von Aserbaidschans Hauptstadt Baku aus auf eine lange Rundreise an den nordöstlichen Rand des Kaukasus aufgebrochen, um die dortigen Wahllokale unter die Lupe zu nehmen. Einsatzgebiet für „Team 7“, einer so genannten mobilen Recherchetruppe der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit), sind elf weit verstreute Dörfer im Apfelzüchterbezirk Kuba. Ein Name, der für deutsche Ohren nach Sonne klingt, nach Strand und Salsa. In Aserbaidschan steht er für Wind und Regen, dagestanische Schmugglerbanden und steinige Äcker.

Das Wahllokal von Wladimorowka befindet sich im ersten Stock des noch zu Sowjetzeiten erbauten „Haus der Kultur“. Im Erdgeschoss fehlen die Dielen. Sie wurden verheizt, als dem Dorf im Winter das Brennholz ausgegangen war. Der Leiter der Wahlkommission, ein schmaler, lebhafter Mann im grauen Anzug, empfängt die OSZE-Beobachter mit einem kräftigen Händedruck. Ja, hier laufe alles ordnungsgemäß! Nein, keine Probleme bei der Organisation der Wahl! Natürlich, in der Wahlkommission seien auch Oppositionspolitiker!

Vielleicht aber hat der bebrillte Herr, der am Eingang des Wahllokals höflich beiseite gebeten wird, tatsächlich Schwierigkeiten, den Stimmzettel zu lesen. Vielleicht ist er tatsächlich nur des kyrillischen Alphabets mächtig und hätte in der Wahlkabine die Namen der Präsidentschaftskandidaten nicht entziffern können. John Earls beobachtet die Szene zweifelnd. So zweifelnd, dass der Kommissionsvorsitzende minutenlang beschwichtigend auf ihn einredet. Der Engländer verkneift sich mühsam einen bissigen Kommentar. Weil ein Wahlbeobachter absolut neutral und diskret zu sein hat – so schreibt es der Beobachtercodex vor –, sagt er nur höflich: „Ich habe immer noch ein paar Fragen.“

John Earls ist einer von 500 Freiwilligen, so genannten „Short Term Observers“ aus aller Welt, die die OSZE Mitte Oktober für eine Woche in die ehemalige Sowjetrepublik Aserbaidschan entsandt hat, um zu beobachten, wie demokratisch dort die Wahlen ablaufen. Es ist die fünfte Abstimmung, die die OSZE auf Einladung der aserischen Regierung begleitet. Sie hat ein Interesse daran, international als demokratisch anerkannt zu werden. Je demokratiewilliger ein Land erscheint, auf desto mehr Entwicklungshilfe und Investoren aus dem Westen kann es hoffen.

Denn die braucht Aserbaidschan. Trotz der Ölvorkommen im Kaspischen Meer ist die ehemalige Sowjetrepublik noch immer ein Land mit den klassischen Problemen postkommunistischer Transformationsstaaten: veraltete Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit, Korruption. Ende 2004 soll die neue Baku-Ceyhan-Pipeline durch Georgien an die türkische Mittelmeerküste fertig sein, an deren Bau auch deutsche Unternehmen wie Salzgitter und Siemens beteiligt sind. Doch Investoren in anderen Bereichen sind noch kaum in Sicht; die Wirtschaft ist fast ausschließlich vom Öl abhängig.

Dienst ist Dienst und Tee ist Tee

Nächste Station für die beiden OSZE-Beobachter ist das Dorf Alibeyquislag. Earls Dolmetscherin, eine 19-jährige Englischstudentin, übersetzt im Wahllokal Frage um Frage: „Haben Sie die Wählerliste um zusätzliche Namen ergänzt?“ – „Wie viele Mitglieder der Wahlkommission sind weiblich?“ – „Hatten Sie irgendwelche Schwierigkeiten bei den Wahlvorbereitungen?“

Die Fragen fußen alle auf jahrelangen Erfahrungen mit den vielen kleinen Unregelmäßigkeiten von Wahlen: zusätzliche Namen auf der Wählerliste, mehrfach abgegebene Stimmen, Zeichnungen in der Wahlkabine, wo man sein Kreuzchen zu setzen habe, Einschüchterung von Wählern, Morddrohungen an Oppositionskandidaten und kritische Journalisten. Einige dieser Mauscheleien muten so absurd an, dass so mancher Wahlbeobachter, der zum ersten Mal dabei ist, sich das Grinsen verkneifen muss. „Wenn Sie eine dieser Storys hören, ist das lustig“, wird Peter Eicher, der OSZE-Missionschef in Baku, später in der Abschluss-Pressekonferenz sagen. „Wenn Sie alle gelesen haben, werden Sie depressiv.“

Njet, antwortet der Kommissionsvorsitzende in Alibeyquislag, keine Gesetzesverstöße. Alles laufe ordnungsgemäß. Und er sei stolz, solch fremde Gäste zu haben: „England, Beckham, great country. Germany, best cars!“ Jetzt aber solle man Dienst Dienst sein lassen und endlich im Nebenzimmer Tee trinken.

Neun Wahlbüros stehen noch auf der Liste von „Team 7“. In acht Orten, die es ohne Karte und teilweise ohne Straßen in der Provinz Kuba zu finden gilt, bevor um sieben Uhr abends die Stimmauszählung beginnt. „Es tut uns Leid, wir müssen weiter“, sagt Dorothee Anklam. Die Dolmetscherin hält sie am Ärmel fest. „Komm, ein Tee ist doch noch keine Beeinflussung!“

Erst eine Stunde später bricht „Team 7“ wieder auf. Außer Tee hatte sie eine riesige Tafel erwartet – überladen mit Brotlaiben, Blechschüsseln voller Schafskäse, Tomaten, Zwiebeln und Konfekt. Auf der Rückbank des Wagens mühen sich Earls und Anklam nun mit dem Ausfüllen der „Election Observation Forms“ ab. Über 30 Fragen gilt es zu beantworten, mehrere Dutzend Kästchen anzukreuzen, Abkürzungen zu verstehen und Nummern zu notieren.

Doch John Earls bleibt gelassen. Er ist Wahlbeobachtungs-Profi. Kosovo, Bosnien, Somalia – mindestens ein halbes Dutzend Wahlen hat er schon hinter sich gebracht. Da kann ihn jetzt auch nicht weiter aus der Ruhe bringen, dass die Dolmetscherin eben im zweiten Wahllokal statt des am Morgen während der Stimmabgabe auszufüllenden „Voting“-Formulars die Fragen der für die Stimmauszählung am Abend bestimmte „Counting“-Formulars übersetzt hat. „Was nicht läuft, läuft eben nicht. Das begreifen alle Beobachter irgendwann, wenn sie klug sind“, sagt er trocken.

Ein lebloser Junge am Straßenrand

Insgesamt acht Namen stehen auf dem Abstimmungsformular, doch fast alle sind selbst den meisten Einheimischen unbekannt. Aussichtsreichster Anwärter auf das Amt des Präsidenten ist bei dieser Wahl Ilham Alijew, Sohn des seit 1993 regierenden, schwer kranken Präsidenten Gaidar Alijew, der Ilham durch einen geschickten Schachzug schon zu seinem Nachfolger machte: Durch eine Gesetzesänderung sorgte er dafür, dass der Filius Ministerpräsident wurde. Damit ist er legaler Vertreter des Präsidenten – im Falle, dass dieser schwer erkrankt. Und das war Gaidar Alijew zu diesem Zeitpunkt bereits, wie Fernsehbilder belegen, auf denen er während einer Rede zusammenbricht. In Aserbaidschan wird spekuliert, dass er inzwischen sogar verstorben sei. Anfang Oktober jedenfalls zog der Vater seine Wahlkandidatur zurück, und Ilham wurde alleiniger Kandidat der regierenden YAP-Partei.

Im nächsten Ort – Akhbil – angekommen, begleitet „Team 7“ die Wahlkommission mit der „mobilen Urne“ zur Hütte einer 90-Jährigen, die die 400 Meter zum Wahllokal nicht mehr zurücklegen kann. Es gibt keine Fensterscheiben, der Herd besteht aus einer Feuerstelle, über der ein Blechnapf baumelt, ein Strohsack auf dem Boden dient als Bett. „Sie kommen bestimmt von einer Hilfsorganisation!“, flüstert die Frau und umarmt Dorothee Anklam. Ein Wahlhelfer führt der Alten, die überhaupt nicht weiß, wie ihr geschieht, die Hand. „Die hat andere Sorgen als eine demokratische Wahl“, murmelt die Dolmetscherin.

Als John Earls und seine Kollegin am nächsten Morgen wieder in Baku eintreffen, ist die Zufahrt zum Hotel, in dem die OSZE für die Wahlbeobachter vier Etagen reserviert hat, blockiert. „Betrug! Betrug!“, skandieren hunderte von Demonstranten in der Innenstadt. Ilham Alijew ist schon kurz vor Ende der Stimmauszählung zum Wahlsieger erklärt worden – mit zu diesem Zeitpunkt rund 79 Prozent der Stimmen.

Die Stimmung beginnt überzukochen. Eine Gruppe Männer – Anhänger der Oppositionspartei Musavat, wie es im Staatsfernsehen heißt – stürmt mit Schlagstöcken bewaffnet in einen Polizistenpulk hinein. Andere drängen nach, knüppeln um sich, zertrümmern Autos, schlagen Fensterscheiben ein. Auf dem Grünstreifen am Rand der Straße liegt ein lebloser Junge. Dann fahren gepanzerte Militärfahrzeuge vor. Blendgranaten werden gezündet, Schüsse peitschen durch die Luft.

Währenddessen gibt Ilham Alijew im Staatsfernsehen sein Antrittsinterview. „Der Präsident ist neu, aber der Kurs bleibt derselbe“, verkündet er mit unbewegter Miene. Der Kommentar von OSZE-Missionschef Eicher am Abend fällt so deutlich aus wie selten ein Beobachter-Statement zuvor: „Diese Wahl ist eine verpasste Gelegenheit für einen echten demokratischen Wahlprozess.“