Die vergessene Klasse

Stéphane Beaud und Michel Pialoux zeigen in ihrer Studie über die „verlorene Zukunft der Arbeiter“: Macht und Zusammenhalt der Arbeitnehmerschaft ist verloren. Das Recht des Stärkeren gilt wieder

VON BERTHOLD VOGEL

Ein Buch passend zu den Zeitläuften. Es erzählt die Geschichte eines sozialen Abstiegs. Es berichtet von Menschen, deren Status bedroht ist, die fürchten müssen ihre gesellschaftliche Anerkennung zu verlieren.

Worum es geht? Um Arbeiter in der Automobilindustrie, in der Kernbranche des modernen Kapitalismus, um angelernte Arbeiter und Facharbeiter, um junge und alte Arbeiter. Die französischen Industriesoziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux haben eine Langzeitbeobachtung in den Peugeot-Werken von Sochaux und Montbéliard durchgeführt, die nun unter dem Titel „Die verlorene Zukunft der Arbeiter“ erschienen ist.

Sie konzentrieren darin ihren Blick nicht nur auf Fabrikhallen und Montagebänder. Denn das gesellschaftliche Schicksal der Arbeiter – so die zentrale These der Studie – entscheidet sich keineswegs allein im Betrieb. Der soziale, politische und symbolische Niedergang der Arbeiterklasse kennt viele Orte und Ursachen. Nicht nur die Automatisierung und Rationalisierung der Produktion entwertet und schwächt die Industriearbeiterschaft. Zum Gegenwartsschmerz und Zukunftsverlust der Arbeiter trägt zudem bei: das Verschwinden der Arbeitersiedlungen, das Problem, berufliche Perspektiven an die nächste Generation weiterreichen zu können, die verschlungenen Pfade der Schulbildung und nicht zuletzt die Auflösung eines eigensinnigen und widerspenstigen Arbeiterethos.

Vor allem aber sind die Arbeiter „von der gesellschaftlichen Bildfläche“ verschwunden. Sie haben „nach und nach ihren Schrecken verloren. Sie machen den Mächtigen nicht mehr Angst.“ Die Arbeiter – von der gefährlichen Klasse zu vergessenen Klasse.

Die Studie von Beaud und Pialoux, beide langjährige Mitarbeiter Pierre Bourdieus, gründet auf intensiven Gesprächen mit Arbeitern und ihren Familien, mit Betriebsräten und Lehrern. Der Zeitraum der Untersuchung erstreckt sich über 15 Jahre, von 1983 bis 1998 – außergewöhnlich lang für eine soziologische Studie. Doch sie belegt eindrucksvoll, dass es auf diese Weise gelingt, sich von Momentaufnahmen zu lösen und die Dramaturgie gesellschaftlichen Wandels nachzuzeichnen.

So zeigen sie die Veränderungen im sozialen Gefüge der Fabrik: Angelernte Arbeiter haben unter den neuen Organisations- und Produktionsbedingungen keine Aufstiegschancen mehr, die mentale und materielle Kluft zwischen Arbeitern und Technikern vertieft sich – und die einst so selbstbewussten Bastionen der „Fabrikarbeiteraristokratie“ verfallen. Im Zeitverlauf wird auch die Neujustierung der schulischen und beruflichen Bildung zu Lasten der „alten“ Arbeiter sichtbar. Die schulische Laufbahn der „neuen“ Arbeiter führt zu Haltungen und Mentalitäten, die mit dem „alten“ Arbeiterhabitus nichts mehr gemeinsam haben.

Industriearbeiter demonstrieren heute soziale Kompetenz, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Der Eigensinn manueller Fertigkeiten, handwerklichen Geschicks und betrieblichen Erfahrungswissens verliert an Wert. Auf diese Weise entsteht Konfliktstoff zwischen „alten“ und „neuen“ Arbeitern, der die politische und symbolische Kraft der Arbeiterschaft schwächt. Diese Konflikte werden nicht nur im Betrieb ausgetragen, sie setzen sich in den Familien fort.

Industriesoziologie wird hier auch zur Familien- und Generationengeschichte. So sehr Beaud und Pialoux ins empirische Detail gehen und ausführlich Passagen aus ihren Gesprächen vorstellen, so ausdrücklich verallgemeinern sie: Der soziale Niedergang der Arbeiterschaft, ihr Verschwinden aus der publizistischen Öffentlichkeit und der politische Bedeutungsverlust führe auch zu einem neun gesellschaftlichen Ordnungsmodell.

Die soziale und politische Isolation der Arbeiterschaft, die zum Verlust ihrer „kollektiven Abwehrmechanismen“ führt, berührt die Gesellschaft insgesamt. „Schließlich spielte die Arbeiterbewegung auf Grund ihrer Kampfkraft in der Vergangenheit eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung und Konsolidierung einer Arbeitnehmergesellschaft“, die ein spezifisches Rechtssystem und Versicherungswesen zugunsten der abhängig Beschäftigten etablierte. Jetzt geht es in der Lesart von Beaud und Pialoux um eine Rückkehr zum verwundbaren „Arbeiter-Sein“ vor der Arbeitnehmergesellschaft, um die Wiedereinführung des Rechts der Stärkeren in der Arbeitswelt.

Spielt dieses Stück nur in Frankreich? Wohl kaum. Ohne relevante nationale Unterschiede bei den Gewerkschaften oder der rechtlichen Gestaltung des Arbeitnehmerstatus zu übersehen: die Formen des Abstiegs der Arbeiterschaft und deren Schwächen, ja deren Hilflosigkeit im Abstiegskampf sind sicher keine französische Eigenart. Typisch französisch ist eher die soziologische Zeitdiagnose, die selbstverständlich historisch argumentiert und nicht verlernt hat, in Kategorien sozialer Klassen zu denken.

Stéphane Beaud, Michel Pialoux: „Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard“. Aus dem Französischen von Martina Wörner und Axel Eberhardt. UVK, Konstanz 2004. 364 Seiten, 29 Euro