Das Leben in die eigene Hand nehmen

In einem Kölner Heim leben psychisch kranke Frauen in Wohngemeinschaften. Dort lernen sie, den Alltag trotz ihrer Krankheit eigenverantwortlich zu organisieren. Langfristiges Ziel für viele von ihnen ist eine eigene Wohnung und ein Arbeitsplatz

von Jürgen Schön

Wieder allein das Leben meistern. In einer eigenen Wohnung wohnen. Und einen Job haben. Das ist der Traum vieler Frauen, die im „Wohnprojekt für Frauen“ leben. Wie die 28-Jährige, die ihren Namen nicht nennen will. „Hier lerne ich die richtigen Schritte“, sagt sie und zählt die Bewerbungen für eine Arbeitsstelle auf, die sie geschrieben hat. Sie weiß, dass sie Schwierigkeiten hat im Umgang mit ihren Mitmenschen, insbesondere Männern. Sie wird schnell aggressiv, wenn andere „über mich bestimmen wollen“. Und das Gefühl hat sie schnell. Eine Lehre hat sie abgebrochen. Wegen einer Psychose kam sie ins Krankenhaus. Sie muss weiter mit Medikamenten leben.

26 Frauen wohnen in dem modernen Haus in der Humboldter Odenwaldstraße. Zwanzig von ihnen in Vierer-Wohngemeinschaften, 6 in Appartements. „Psychisch krank“, lautet ihre Diagnose. Für Experten sind das meist „Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis“. So richtig kennt die Wissenschaft die Ursachen der Krankheit nicht. Zurzeit macht man genetische Ursachen dafür verantwortlich, Stoffwechselstörungen im Gehirn, aber auch das soziale Umfeld. Für den Laien erkennbare Symptome sind Depressionen, Suchtprobleme, Angstzustände, Waschzwänge. Die Betroffenen können Stimmen hören oder fühlen sich verfolgt. Sie ziehen sich vor ihren Mitmenschen zurück oder reagieren mit Aggressionen auf ihr Umfeld. Das wiederum reagiert oft mit verständnisloser Ablehnung, sondert die Kranken aus. Der gegenseitige Prozess der Abschottung macht den Kranken das Leben schwer.

„Wir geben hier langfristig einen verlässlichen Rahmen, in dem unsere Frauen ihr Leben in einer Gemeinschaft organisieren können“, beschreibt Heimleiterin Annemarie Kirschbaum das Projekt. Es soll ein „normales“ Leben sein, in einer „normalen“ Nachbarschaft. Deshalb wurde dieses Heim vor zwei Jahren auch als „Zweigstelle“ außerhalb der Riehler Heimstätten eröffnet. Der Kontakt zur Nachbarschaft ist allerdings etwas „sparsam“, bedauert Kirschbaum. So wurde an einem Tag der offenen Tür das Angebot zu einem Besuch kaum wahrgenommen.

Pläne zum Putzen, Waschen oder Kochen helfen, den Tag zu strukturieren, und regeln das Zusammenleben der Vierergruppen. „Wir wollen die Stärken, die die Frauen haben, stärken und verloren gegangene Ressourcen wecken.“ Drei Frauen schafften so im vorigen Jahr den Sprung in das selbst organisierte Leben. Unterstützt wurden sie dabei von einem Team, das aus Ergotherapeutin, Sozialpädagogin, Sozialarbeiterin und Krankenschwester besteht. Träger des Heims sind die Zentren für Senioren und Behinderte der Stadt Köln (SBK).

„Eine gute Einrichtung ist das hier“, lobt Susanna Heim. Sie hat „Rat & Tat“ mitbegründet, die Kölner Selbsthilfe für Angehörige von psychisch Kranken, war lange deren Vorsitzende. Das Thema psychische Erkrankung sei immer noch ein gesellschaftliches Tabu, sagt sie. „Gerade Familienangehörige tun sich oft schwer, eine psychische Erkrankung anzuerkennen.“ Oft litten sie unter Schuldgefühlen, weil sie sich der Pflege trotz Selbstaufopferung nicht gewachsen fühlten. Sie selber habe als Mutter eines kranken Sohnes festgestellt: „Je offener ich damit umging, umso weniger wurde getuschelt.“ Die Unterbringung eines Angehörigen in einem Heim sei jedenfalls keine Schande.

Wer in eine Wohngemeinschaft einziehen will, kommt zu einem Vorstellungsgespräch. Dabei wird unter anderem geklärt, wie die Mitbewohner in spe mit ihrer Krankheit umgehen. Glaubt man, die „Chemie stimmt“ zwischen Bewerber und Personal, ist zunächst ein einwöchiges „Probewohnen“ möglich.

Viele finden dann das Leben in der Gemeinschaft auch so gut, dass sie gar nicht mehr alleine wohnen wollen. So wie Helga Stork, die unter Depressionen leidet. „Hier werde ich betreut“, strahlt sie. Sie wohnte lange mit ihrer Mutter zusammen, packte nach deren Tod das Alleinsein nicht. Sie ist 59, mit 60, so sagt sie, „muss man hier ausziehen“. Das beunruhigt sie aber nicht, sie ist schon vorgemerkt für ein Zimmer im Haus „Ginkgo“, das die SBK gerade für ältere psychisch Kranke fertig gestellt hat. „Da gibt‘s dann auch Männer“, freut sie sich.

Wer in der Odenwaldstraße einzieht, findet ein bequem, modern und hell eingerichtetes Einzelzimmer vor; dass jemand seine eigenen Möbel mitbringt, ist eher die Ausnahme. Das Zimmer von Karin Kurz zum Beispiel ist mit Plüschtieren übersät. Sie genießt die Gemeinschaft, die das Heim bietet. Sie wohnt hier, weil sie „allein nicht zurecht kam“. „Ich habe immer die Häuser verwechselt“, beschreibt sie ihre Krankheit. Außerdem „explodiere“ sie sehr schnell, wenn es zu Streit komme.

Hier aber hat sie gelernt, mit Auseinandersetzungen umzugehen – und auch, bei Auseinandersetzungen zu vermitteln. Ihre Mitbewohnerinnen schätzen das: Sie haben Karin Kurz in den Heimbeirat gewählt.