Adoptiert bleibt man ein Leben lang

Sie haben einen deutschen Pass und oft auch einen deutschen Namen. Schätzungsweise 30.000 Adoptivkinder kamen in den letzten 30 Jahren aus dem Ausland in eine neue Familie. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte begleitet sie auch dann noch, wenn sie längst keine Kinder mehr sind

VON KRISTINE DÖLL

Oktober 1978, Flughafen Frankfurt. Vor 36 Stunden war eine Maschine mit über 30 Kindern und zahlreichen Betreuern von terre des hommes in Seoul an Bord gegangen. Einige Kinder landen in Deutschland, empfangen von Menschen, die ihre Eltern werden wollen. Es ist nicht die einzige Maschine, die in diesen Siebziger- und Achtzigerjahren verlassene Kinder aus Korea, Vietnam, aus Afrika und Südamerika nach Europa bringt.

Kirsten (Name geändert) ist eine von ihnen. Sie ist eine Deutsche, die in Korea geboren ist. Sie ist mit zehn Monaten nach Deutschland gekommen – damals noch unter dem Namen In-Souk. Heute ist sie 25 Jahre alt und eines der schätzungsweise 30.000 verlassenen Kinder, die seit den Siebzigerjahren aus dem Ausland in deutsche Adoptivfamilien vermittelt wurden. Sie sagt: „Ich hatte nie das Gefühl, schlechter zu sein als andere Kinder.“

Ihre Mutter arbeitete zu Hause. Schon früh begannen die Eltern, ihr Korea näher zu bringen. Die koreanische Freundin der Mutter, die koreanischen Kollegen ihres Vaters, das koreanische Essen, alles unterstützte Kirsten auf ihrem Weg. Als sie 16 war, fuhren ihre Eltern mit ihr nach Seoul, um ihr das Land zu zeigen, in dem sie geboren wurde. Der Umstand, dass sie Einzelkind ist, kommt ihr zugute.

Rückblickend erzählt Kirsten, dass es für sie, ihre Familie und ihre Freunde nie eine Rolle spielte, dass sie ein ausländisches Adoptivkind war. Zweifel, wo sie hingehört, hatte sie nie. Für sie kommen die Probleme nicht von innen, sondern von außen: Unverständnis für die Adoption, rassistische Anfeindungen und vor allem Unwissenheit. Menschen, die nicht wissen, dass es offizielle Vermittlungsstellen gibt, denken, sie sei gekauft. Und immer wieder sei da diese Verwunderung, wenn sie akzentfrei deutsch spricht, sagt Kirsten.

Fremd für ihre Umwelt

„Ich musste nicht damit kämpfen, weggegeben und adoptiert worden zu sein, ich musste darum kämpfen, als koreanische Deutsche anerkannt zu werden.“

Wie Kirsten erzählen viele Adoptivkinder, die aus dem Ausland kommen, dass sie immer wieder von ihrer Umwelt an ihr Anderssein, Fremdsein erinnert werden – obwohl ihnen selbst oft erst der Blick in den Spiegel versichert, dass sie anders aussehen als andere.

Oft werden diese und andere Probleme der Kinder aus dem Ausland unterschätzt. Dies lässt sich an den Entwicklungen bei der Adoptionsvermittlung erkennen. Deren Intention hat sich in den letzten vierzig Jahren stark gewandelt: „Während sich die Adoptionsbewerber anfangs zumeist aus politisch aufgeschlossenen, sozial engagierten und oftmals religiös oder humanistisch motivierten Kreisen rekrutierten, begann sich Mitte der 1980er-Jahre dieses Profil merklich zu wandeln“, erklärt Dr. Bernd Wacker, Adoptionsexperte des Kinderhilfwerks terre des hommes: „Immer mehr unfreiwillig kinderlose Bewerber wurden bei den Jugendämtern vorstellig.“ Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2003 offiziell 5.330 Kinder unter 18 Jahren adoptiert. 1995 lag die Zahl noch bei 7.969 Kindern. Demgegenüber ist die Zahl der Auslandsadoptionen mit jährlich über 1.700 relativ stabil geblieben – nicht mitgezählt die Kinder, die an den Landesjugendämtern oder den staatlich anerkannten Fachstellen vorbeivermittelt werden, nach Schätzungen von terre des hommes immerhin 30 Prozent. Schließlich ist eine Auslandsadoption für viele die letzte Möglichkeit, zu einem „eigenen“ Kind zu kommen.

Aufgrund dieser Entwicklung sind seit den Achtzigerjahren zahlreiche neue Adoptionsvermittlungsstellen entstanden. „Mittlerweile treten sich diese Vermittlungen gegenseitig auf die Füße,“ sagt Maria Holz, Mitarbeiterin des Adoptionsreferats von terre des hommes. Der entstandene weltweite Kindermarkt folge nicht mehr dem Leitspruch „Eltern für Kinder“, so Holz. Stattdessen würden mittlerweile häufig eher „Kinder für Eltern“ gesucht, das Wohl des Kindes habe nicht mehr Priorität. Noch problematischer sei allerdings, dass es den zahlreichen Vermittlungsstellen an der nötigen Erfahrung fehle, um Bewerber und Kinder fachgerecht zu betreuen.

Bei terre des hommes, das 1995 seine Arbeit als Vermittlungsstelle beendet hat, stehen seither Projekte im Vordergrund, die dabei helfen sollen, die Zahl der Adoptierten im Ausland zu minimieren, und Adoptivkinder und ihre Familien betreuen. Die Einrichtung der so genannten „Motherland Tours“ beispielsweise bietet seit 1990 den Kindern die Möglichkeit, in ihr Heimatland zu reisen.

Im Jahr 2000 fährt Kirsten gemeinsam mit anderen Adoptivkindern auf einer solchen „Tour“ ein zweites Mal nach Seoul. Die damals 20-Jährige will sehen, woher sie stammt. Kirsten erfährt: Ihre Geburt war kompliziert. Nach dem Kaiserschnitt fiel die Mutter ins Koma. Als sie aufwachte, wollte sie ihr Kind holen, doch es war schon weg. Ohne ihr Wissen war Kirsten vom Vater und einer Tante zur Adoption freigegeben worden. Der Vater, ein Fischer, hätte eine Familie mit vier Töchtern nicht mehr finanzieren können. Und Kirsten begreift: Sie war nicht schlechter als ein anderes Kind, sie war nur eins zu viel.

Da ist noch dieses Land

Heute ist Kirsten Krankenschwester. Sie hat ihre Eltern, gute Freunde und einen festen Freund. „Jeder Mensch hat im Leben etwas, womit er klarkommen muss. Bei mir ist es eben, dass ich adoptiert bin. Die Adoption ist Teil meines Lebens, aber nicht der Mittelpunkt“, sagt sie.

Ganz anders erlebt Martin (Name geändert) sein Leben als Adoptivkind. „Ich konnte nichts mit mir anfangen. Ich habe mich gehasst, und ich habe meine Adoptiveltern gehasst.“ Martin ist 27 und wurde mit acht Monaten aus Kenia adoptiert. Als er ankam, habe er drei Monate lang nur geschrien, sagt er. Später schien er sich ganz normal zu entwickeln. Doch in der Pubertät traten Probleme auf.

Lange Zeit war Martin der Überzeugung, ein schlechtes Kind und ein minderwertiger Mensch zu sein, weil seine leibliche Mutter ihn weggegeben hat. Zu diesem Gefühl der Nutzlosigkeit kommt die Orientierungslosigkeit: Trotz deutscher Eltern und deutscher Sozialisation ist er eben doch ganz anders als andere Kinder. Er ist schwarz, seine Eltern sind weiß.

Doch da ist noch dieses Land in Afrika. Ein Land, von dem er nichts kennt als die Umrisse auf der Landkarte. Kenia, sein Herkunftsland. Bisher hat er alles, was mit Kenia zusammenhing, von sich weggeschoben. Auch seine Eltern beschäftigen sich nicht übermäßig mit dem Land, aus dem ihr Sohn kommt. Jahrelang war ihm das auch ganz recht. Als seine Schulkameraden mit zerrissenen Hosen und gefärbten Haaren herumliefen und Punkrock hörten, habe auch er das versucht, erzählt er. Aber irgendwie habe nichts gestimmt, er blieb eben anders als die anderen.

Statt diese Erkenntnis zu nutzen, wollte er noch weniger über sich und seine Herkunft wissen, so sagt Martin heute. Er glaubte, wenn er sich nicht mit seiner Adoption beschäftige, dann interessiere es auch keinen anderen mehr. Er bricht den Kontakt zu seinen Eltern ab. Auch sie erinnern ihn daran, dass er ein Adoptivkind ist.

Er ist 21, als er eine Reportage über Kenia sieht – nicht über Safaris, wilde Löwen oder die Schönheit der Landschaft, sondern das Leben in den Slums von Nairobi. Das ist der Wendepunkt. Er beginnt zu begreifen, dass er dort niemals die Möglichkeit gehabt hätte, die er in Deutschland hat. „Der Hass auf mich selbst und meine Eltern hatte mich gelähmt.“

„Adoptiert zu sein bedeutet, zwei Elternpaare zu haben. Adoptivkinder müssen zwei ganz unterschiedliche Identitäten miteinander vereinen. Sie stehen zwischen zwei Welten“, sagt der Psychologe Jürgen Stapelmann. Adoptivkinder müssten nicht nur biologische und psychosoziale Beziehungen verbinden, sondern darüber hinaus auch ihre ethnokulturelle Herkunft und Zugehörigkeit integrieren. Ihrer Lebensgeschichte fehle es an Kontinuität.

„Die Adoption ist ein lebenslanges Thema. Die Kränkung der Weggabe bleibt. Adoptivkind bleibt man auch dann noch, wenn mal längst kein Kind mehr ist“, so Stapelmann weiter. Adoleszenz, Heirat, Schwangerschaft, Geburt und Tod – immer wieder spielen Herkunft und Identität eine wichtige Rolle.

„Die Adoptivfamilien haben den Wunsch, eine ganz normale Familie zu sein. Die Tatsache der doppelten Elternschaft darf aber nicht außer Acht gelassen werden,“ sagt Maria Holz von terre des hommes. Je weniger die Adoptivfamilie die Sonderstellung ihres Kindes akzeptiert und sich mit der Herkunft beschäftigt, desto größer können die Probleme werden, die auf das Kind zukommen, wenn es erwachsen werden will – wobei Holz relativiert: „Auch leibliche Kinder können auf der Suche nach ihrer Identität scheitern.“

Endlich kehrt Ruhe ein

Martin fährt 2002 nach Afrika. Als er in Nairobi aus dem Flugzeug steigt, erfüllt ihn ein Gefühl, was er bisher nicht kannte. Irgendwie ist er angekommen. Obwohl er – als Findelkind – seine leiblichen Eltern nicht kennen lernen kann, kehrt plötzlich Ruhe ein: In Kenia fühlt er sich wohl. Nach der Reise beginnt er eine Therapie.

Er beginnt zu begreifen, dass er sein Leben selbst in der Hand hat und er deswegen auch Verantwortung dafür übernehmen muss. „Die Adoption wird immer ein unausweichlicher Teil meines Lebens sein. Sie wird auch weiterhin mein Leben in gewissen Situationen bestimmen, aber ich beginne meine Identität zu formen. Ich bin eben Deutscher mit einem afrikanischen Einschlag.“ Martin selbst würde nie ein Kind adoptieren. Er glaubt, dass Eltern dafür viel Kraft und Überzeugung haben müssen. „Meine Eltern“, sagt er, „hatten diese Kraft nicht, und ich werde sie auch nicht haben.“