Wie es sich in einer Kulturhauptstadt lebt

Braunschweig, Bremen, Lübeck und Osnabrück haben dasselbe Ziel: Den Titel der Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2010. Der Grazer Kulturpolitiker Helmut Strobel weiß, was das bedeutet aus eigener Anschauung – und erklärt den norddeutschen Kandidaten, was im Falle eines Falles auf sie zukommt

Fragen: Klaus Irler
und Benno Schirrmeister

Graz ist, was Braunschweig, Bremen, Lübeck und Osnabrück 2010 sein wollen: Kulturhauptstadt Europas. Aber kann die steirische Hauptstadt als Modell für eine der norddeutschen Titelanwärterinnen dienen? Helmut Strobel, langjähriger Kulturdezernent von Graz, weilte auf Einladung der örtlichen Arbeitnehmerkammer in Bremen. Im Interview erläuterte er die Risiken und Nebenwirkungen einer Bewerbung.

taz: Graz ist Kulturhauptstadt 2003. Sie haben das Projekt von Anfang an maßgeblich gestaltet. Wofür genau waren Sie zuständig?

Strobel: Jetzt bin ich nur noch ehrenamtlich dabei, als Pensionär. Aber ich hab’ das Ganze initiiert, das ist richtig. Ich habe 1988 die Idee in die Stadtregierung eingebracht. Und zum Schluss war ich dort auch für die Hochbauten zuständig, die mit dem Kulturhauptstadtprogramm direkt zu tun haben – das Kunsthaus, das Literaturhaus, das Kindermuseum, Popkulturzentrum.

Sind solche Großprojekte zwingend für eine Bewerbung?

Es hat sich als Quasi-Normalfall herausgestellt. Bei uns war das so, dass sich eine ganze Menge Projekte angesammelt hatte, aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, die entweder wegen fehlender finanzieller Mittel noch nicht realisiert oder im Streit waren. Das stärkste Beispiel ist das Kunsthaus. Was wir jetzt realisiert haben, ist der dritte Standort mit abgeschlossenem internationalem Wettbewerb – die anderen waren aus politischen Gründen gecancelt worden.

Ein lang geplanter Bau also…

Die Diskussion, wir hätten gerne ein Kunsthaus, geht seit rund 100 Jahren– als das Opernhaus gebaut wurde. Als das fertig war, kam schon die Idee, wir brauchen auch etwas für die bildende Kunst. Der Bedarf war schon da.

Und ist nie in Frage gestellt worden?

Beim zweiten Wettbewerb hatten wir ein wenig die Sorge, dass es kippt: Da gab’s eine Bürgerinitiative gegen den Standort. Die hat aber als ersten Satz oben drüber geschrieben: „Wir sind für ein Kunsthaus in Graz – aber gegen diesen Platz“.

War es wichtig, dass die Bau-Projekte schon so lange diskutiert wurden?

In den meisten Fällen war das entscheidend. Die einzigen beiden, die wirklich anlässlich 2003 erfunden wurden, sind das Kindermuseum und die so genannte Helmut-List-Halle, die nicht uninteressant ist, weil sie zu zwei Dritteln von einer Firma gebaut ist.

Wie haben Sie die politischen Mehrheiten organisiert?

Die Stadtregierung war damals ein sehr bunter Haufen: Wir hatten vier Fraktionen. Und die auf einen Nenner zu bringen, war eigentlich nur möglich durch die Entscheidung in Brüssel. Die fiel ja 1998. Da hatten wir im Jänner Kommunalwahlen, im März stand die neue Stadtregierung – und Brüssel hat uns den Titel zugeordnet. Plötzlich dachten alle: Jetzt dürfen wir uns nicht blamiern, jetzt müssen wir was zustande bringen. Das war der Kitt.

Das setzte erst mit dem EU-Beschluss ein?

Ja. Die Bewerbung ist bei uns anfangs ja auch nur belächelt worden: Paris, Amsterdam – ja was wollt’s ihr da. Aber dann sind die EU-Minister auf die Idee gekommen: Bitte nominiert nicht nur Metropolen, sondern Städte, die noch einen Ehrgeiz haben in diese Richtung, die sich stärker einbringen wollen, was Kultur betrifft – wie Graz.

Oder wie die vier norddeutschen Bewerber: Wenn Sie das deutsche Kandidatenrennen betrachten, wundert Sie dann nicht der jeweils sehr große zeitliche Vorlauf?

Na, ich bitt’ Sie, der ist aber auch notwendig. Das ist eine völlig andere Situation als bei uns. Die müssen etwas jetzt machen, was wir erst ab der Entscheidung in Brüssel getan haben – nämlich eine weitergehende Öffentlichkeit von der Sinnhaftigkeit überzeugen.

Weshalb?

Da spielt mehreres eine Rolle. Sie müssen davon ausgehen: Österreich können Sie quantitativ vergleichen etwa mit Bayern. Das heißt, automatisch melden sich in Deutschland mehr Städte. Erster Punkt. Zweiter Punkt: Die EU hat die Vorgehensweise geändert. 2005 bis 2019 hat sie sämtliche Jahre auf die Staaten zugeordnet. Deutschland weiß heute schon, wann’s dran ist. Außerdem – das klingt vielleicht selbstherrlich, das deutsche Feuilleton hat es uns aber bestätigt – spielt auch die Erfolgsstory Graz eine Rolle, dass vielen eine Bewerbung so reizvoll erscheint. Also alles in allem eine völlig andere Situation als bei uns.

Was nicht anders ist: Die schönen neuen Bauten, die verursachen auch Betriebskosten…

Ja.

Wie wirkt sich das aus? Muss da die freie Szene bluten?

Nein, das ist schon geklärt. Es ist richtig, die Stadt hat 2001 einen sehr starken Sprung ins Defizit gehabt. Und da haben natürlich alle die Sorge gehabt: Aha, das geht jetzt alles zu Lasten der Kulturszene. War nicht so, ist nicht so – auch fürs nächste Budget ist angekündigt: es wird überall gekürzt, bis auf die Kultur. Weil die Verantwortlichen erkannt haben, dass sie eine große Zu-kunftschance für die Stadt ist.

Die phänomenalen Tourismuszahlen…

Also inklusive August haben wir nicht wie prognostiziert 10, sondern 28 Prozent Zunahme, also fast eine Verdreifachung der Nächtigungsziffer.

Wie wird Graz mit diesem Ansturm fertig?

Bisher gut, bisher gut. Ich sag immer: Wenn wir Probleme haben, dann mit den Quantitäten. Es gab öfters böse Stimmen der Besucher – weil die mit dem Kaffee nicht nachgekommen sind.

Aber atmosphärisch…

Super, super. Sie müssen aufpassen bei mir.

Sie sind Partei…

Ja, ich bin Partei. Wir lassen uns das aber auch gerne von außerhalb erzählen. Ich zitiere ausländische Journalisten, kritische, die auch in den Straßen rumgegangen sind, und diese berühmten „Na, was sagen Sie dazu?“-Umfragen gemacht haben. Gott, die sind perplex: Zum Teil keine einzige negative Stimme.

Und auch das Kalkül, das Medieninteresse zu steigern, ist aufgegangen?

Das kann man schon sagen, keine Frage. Der Hauptgrund liegt darin, dass der Lorenz von Anfang an – zu meinem Schrecken – gesagt hat, ein Drittel des Programm-Budgets ins Marketing. Das hat mich aus den Socken gehauen anno dazumal.

Aber er hat Recht gehabt?

Absolut. Nur ich als Kulturpolitiker hatte natürlich gedacht, na super, endlich viel Geld für die Mozarts von morgen. Das, was mir immer gefehlt hat, in all den Jahren. Und jetzt kommt der und steckt ein Drittel in die Plakate! Aber er hat völlig Recht gehabt. Es macht wenig Sinn, gute Projekte auf die Beine zu stellen – und keiner weiß davon. Graz hat vorher ja keiner gekannt.

Bekannt ist die Steiermark wirklich vor allem für Kürbiskernöl und Lippizaner. Wie stark haben Sie denn die Region einbezogen?

Da gab’s zwei Schienen. An den interessanten steirischen Kulturstätten – da gibt’s so einige – haben etwa zehn Projekte stattgefunden. Die sind dann auf unterschiedliche Art – per Übertragung oder als Gastspiel – in Graz gezeigt worden. Auch hier war immer wieder der Auftrag: Innovation aus der Tradition heraus. Der zweite ist der normale touristische Zugang: Zu einer Graz-Reise gehört ein Ausflug in die Weingegend einfach dazu.

Einige der deutschen Kandidaten setzen stark auf die Region. Ist das die große Chance?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU-Minister sich künftig auch für Regionen entscheiden. Man kann etwas für Regionen erfinden – einverstanden. Aber das wäre etwas völlig anderes. Die Idee ist ja, die Städte herauszustreichen, weil sie für die kulturelle Entwicklung die entscheidende Rolle gespielt haben.

Es gibt ja bei den deutschen Bewerben Diskussionen, ob Kulturhauptstadt heißt, man stärkt vorhandene Strukturen – oder kauft vor allem Events ein. Wie haben Sie das gehandhabt?

Bei uns war betont: das Programm dieser Kulturhauptstadt heißt Graz mit seinen Stärken und Schwächen. Also war der Auftrag an den Programm-Intendanten Wolfgang Lorenz, die Mehrheit der Projekte, die realisiert werden, müssen aus Graz stammen.

Und?

Dieser Auftrag ist erfüllt, die große Mehrheit der Projekte kommt aus Graz. Aber: Unsere Kulturszene ist eine sehr unabhängige, sehr breit gestreute. Ich sag nur ein Beispiel: Wir haben allein 25 freie Theatergruppen. Lorenz hat zu Beginn der Programmarbeit gemeint: Alle die eine Idee haben – bitte einreichen. Es sind 900 Projekte eingereicht worden. Das hat uns Probleme bereitet.

Klar: Das schafft Missstimmungen…

Wir wussten relativ bald, dass wir zirka 100 Projekte zustande bringen würden. Rein aus finanziellen Gründen, aus Zeit-Gründen und aus Raum-Gründen. 900 Projekte eingereicht und nur 100 werden realisiert, da können Sie sich ungefähr vorstellen, wieviele aus der Grazer Kulturszene frustriert herum gelaufen sind.

Und wie haben Sie die beschwichtigt?

Also das war eine ziemlich harte Diskussion, die uns längere Zeit begleitet hat; offen gesagt: auch bis heute. Sie hat sich aber sehr stark minimiert: Heute ist es so, dass sich noch der eine oder andere aus der Szene der Frustrierten maulend zu Wort meldet, aber meistens mit der Beifügung – zugegeben, Kulturhauptstadt Europas ist ein Erfolg. So ungefähr ist die Situation.

Aber wie geht’s weiter?

Jetzt sind wir in einer so genannten Nachhaltigkeitsdiskussion. Der jetzige Kulturreferent hat die ganze Szene eingeladen zu einem open space. Mit einer Beraterfirma von außen, die das Ganze moderiert hat.

Also auch da – eine Erfolgsstory?

Nein, diese Veranstaltung ist daneben gegangen. Die Firma hat das nicht bewältigt – die hat das nach der Methode der Mitarbeiter-Motivation gemacht. Das geht in der Kulturszene nicht. Das sind keine Mitarbeiter von einem Betrieb, das sind potenzielle Konkurrenten. Der Kulturreferent hat gottseidank sofort richtig reagiert und der Firma den Auftrag entzogen. Die Künstler nehmen das jetzt selber in die Hand. Da behaupte ich – Prognose: Das wird ein Erfolg.