Lapislazuli im staubigen Kabul

Bücher für Randgruppen: Victoria Finlays fein zu lesende Kulturgeschichte über „Das Geheimnis der Farben“

Schon als Kind wollte die englische Journalistin Victoria Finlay wissen, wo die schönen Farben der mittelalterlichen Glasfenster der katholischen Kirche von Chartres herkommen. Nun weiß sie noch viel mehr und führt uns freundlich durch eine Kulturgeschichte der Farben. Das Projekt hat durchaus etwas Romantisches an sich, denn die Beschaffung, Rezeptur und Herstellung edler, seltsamer oder seltener Farben ist heute keinesfalls mehr so mysteriös wie vor Jahrhunderten. Sie kommen sozusagen aus der 1841 erfundenen Tube.

Finlay erzählt um die Farbensuche herum schöne kleine schillernde Geschichten. Etwa die vom ersten Anleitungsbuch zur Farbherstellung, im Spätmittelalter verfasst vom Florentiner Maler Cennini, das späteren Generationen besonders im Bereich der Kunst des Fälschens alter Bilder und der Restauration wertvolle Hilfe leistete. Nein, die Farbe kommt natürlich so wenig aus der Tube wie der Strom aus der Steckdose, und so spricht die Autorin die schleichende Entfremdung des Künstlers gegenüber den Materialien und verloren gegangenes Fachwissen an.

Zeitgenössische Künstler, die in ihren alchimistischen Laboren mit Hasenblut und Jod tuschen (Joseph Beuys) oder giftige Chemikalien und Fotoentwickler in Malgründe mischen (Sigmar Polke), spielen dabei keine Rolle, was aber keine Kritik sein soll. Denn in diesem unterhaltsamen Werk begegnen uns mindestens ebenso interessante, wenn auch klassische Farben. Beispielsweise Scheeles Grün, gern für Tapeten und Wandbemalungen verwendet, wunderbar leuchtend und schwer arsenhaltig. Der Erfinder der wunderbaren Farbe, ein Herr Scheele aus Stralsund, meinte zunächst zwar, man müsse den Verbraucher ob der Giftigkeit warnen, aber seine Sorgen verschwanden schnell, als die Farbe reißenden Absatz fand. Auch in Napoleons Haaren entdeckte man vor vierzig Jahren Spuren der letzten Tapete seines Lebens.

Eine aufregende Reise führte die Autorin dann ins talibanische Afghanistan, wo sie angesichts des völlig ruinierten Landes, erstaunliche Gelassenheit, ja, schwarzen Humor bei der geschundenen Bevölkerung registriert. Sie sucht und findet die einst teuerste Farbe der Welt, die den wunderbaren Namen Lapislazuli trägt. Vom blauen Glitzerstein im grauen Laden des staubigen Kabul schweifen Finlays Gedanken zurück in die Gemäldegalerien der westlichen Welt. Hier ist nun das Ergebnis des pulverisierten Lapislazuli zu bewundern. Zwar wurde Tizians blauer Sternenhimmel nach einer 1968 vorgenommen Restauration von Gutachtern als „zu grell“ kritisiert, doch Gleiches hatte bereits einige Jahrhunderte vorher Künstlerkollege Michelangelo über Tizians Blau gesagt.

Finlays Gedanken- und vor allem Reiseschlenker schaffen Spannung und verscheuchen die Müdigkeit, die eine harmonische und angenehme Lektüre immer so nebenbei mit sich bringt. Finlay reist nach Indien, sucht im Botanischen Garten von Kalkutta nach der letzten Art einer Indigopflanze, findet das zierliche Gewächs, dass gerade dabei ist, von einer Schlingpflanze erwürgt zu werden, und befreit es tatkräftig mit einer Machete. In Chile schaut sie in schaurige Töpfe, in denen trächtige Schildlausweibchen bei lebendigem Leib zu leuchtendem Karminrot zermantscht werden.

Doch nicht immer endet ein Läuseleben tragisch. So ist es einem Dr. Harald Böhmer zu verdanken, dass wir Zeugen einer Farbherstellung aus alter Zeit werden, bei der Kermesläuse zur Farbverarbeitung in ein Essigbad geworfen werden – und sich dort überraschenderweise „pudelwohl“ fühlen. Ob das wohl als Happy End bezeichnet werden könnte? WOLFGANG MÜLLER

Victoria Finlay: „Das Geheimnis der Farben“. Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Jürgen Möllemann. Claassen, München 2003, 576 S., 24 €