Die Rückkehr des Schleiers

In der arabischen Welt wird Identität immer stärker auch über Religiosität gesucht. Selbst im säkularisierten modernen Maghrebstaat Tunesien liegt der Schleier gesellschaftlich im Trend

von RENATE FISSELER-SKANDRANI

August 2003: Bereits der dritte Sommermonat, in dem das Thermometer zwischen 40 und 50 Grad pendelt. Wer immer die Möglichkeit hat, flüchtet sich jetzt ans Meer. Die überfüllten öffentlichen Strände nördlich von Tunis oder bei Hammamet, Nabeul, und Sousse bieten in diesem Jahr ein ungewohntes wie unerwartetes Bild: Eine kaum mehr zu übersehende Zahl von Frauen aller Altersstufen, nicht nur ältere, wie man das in früheren Jahren zuweilen beobachten konnte, geht bekleidet ins Wasser: mit langem traditionellem Gewand, aber auch mit weitem T-Shirt und/oder knielanger Hose über dem Badeanzug. Manche tragen ein Kopftuch. Im städtischen Alltagsleben wächst seit einiger Zeit sichtbar die Zahl von Frauen, darunter sogar das eine oder andere Mädchen von zwölf bis dreizehn Jahren, die den Hidschab oder Khimar (islamisches Kopftuch) tragen: einfach um den Kopf gebunden und unter dem Kinn verknotet, manchmal locker, fast kokett um das Haar geschlungen. Dazu die gewohnte Alltagskleidung oder ein langes Gewand. Aber auch die farblich abgestimmte Kombination aus weit geschnittener Hose und einem bis zum Knie reichenden langärmligen Oberteil scheint in Mode zu kommen.

In staatlichen Behörden und öffentlichen Einrichtungen, wo das Tragen des Hidschab untersagt ist, sieht man einige wenige weibliche Angestellte mit Stirnband und Hut, der geduldeten Alternative zum Schleier.

Der 13. August ist der nationale Frauentag in Tunesien und als solcher ein offizieller Feiertag: Ins Leben gerufen wurde er 1956 vom ersten tunesischen Präsidenten Bourguiba anlässlich der Verkündung des Personenstandsrechts, das an die Stelle der religiösen Gerichtsbarkeit trat. Unter Bourguiba hat Tunesien seit der Unabhängigkeit mehr oder weniger gewollt den Weg der Modernisierung der rechtlichen Beziehungen innerhalb der Ehe und Familie beschritten: Polygamie wurde verboten und die monogame Ehe gesetzlich verankert; das gesetzliche Scheidungsrecht beider Ehepartner trat an die Stelle der Verstoßung. Dieses Personenstandsrecht, das die offensichtlichsten Ungleichheiten beseitigte und den Weg hin zu einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen und zur Transformation der familiären und sozialen Strukturen eröffnete, erfuhr in den 1990er-Jahren wichtige Ergänzungen: 1993 wurde die Gehorsamspflicht der Frau gegenüber ihrem Ehemann abgeschafft und eine rechtliche Ehebeziehung begründet, die auf ein Zusammenwirken der Ehepartner „im gegenseitigen Wohlwollen“ abzielt; das Prinzip der Kooperation der Eltern bei der Führung familiärer Angelegenheiten wurde eingeführt, die aus der Vormundschaft des Vaters über die minderjährigen Kinder entstehenden Vorrechte wurden neu definiert. 1998 wurde die Abstammung eines nicht ehelich geborenen Kindes von seiner Mutter implizit anerkannt.

Was bedeutet die Rückkehr des Schleiers in einem Land, wo Frauen seit Jahrzehnten über einen solchen, in der arabischen Welt einmaligen Rechtsstatus in Ehe und Familie verfügen, wo weibliche Erwerbstätigkeit zum Alltagsbild gehört, Familienplanung und Geburtenbegrenzung seit den 1960er-Jahren praktiziert werden, wo die Geburtenrate stark zurückgegangen ist und die heutige Einschulungsquote von Mädchen im Primarbereich knapp unter der der Jungen liegt, im Sekundarbereich gleich ist und die Zahl der studierenden Frauen an der Universität die der Männer sogar leicht übersteigt?

Die tunesische Vereinigung demokratischer Frauen (ATFD) hat in einem Kommuniqué anlässlich des nationalen Frauentags am 13. August ihre grundsätzliche Ablehnung zum Ausdruck gebracht, ihre Besorgnis wegen dieses „Symbols des Einsperrens der Frauen und der Regression […], das in Ländern verbreitet ist, wo Frauen weiterhin die Polygamie und andere Diskriminierungen erleiden“.

Erinnerungen werden wach: an die Welle des politischen Islamismus, die in den 1980er-Jahren bereits einmal über Tunesien schwappte. Seitdem wird von staatlicher Seite, insbesondere nach der Machtübernahme durch Ben Ali 1987, eine (mit Menschenrechts- sowie demokratischen Prinzipien kaum in Einklang zu bringende) Politik der gewaltsamen Unterdrückung des politischen Islamismus betrieben.

„Unsere Religion schreibt vor, dass Frauen Haar und Körper bedecken“, so wird die Befolgung bestimmter Bekleidungsvorschriften meist begründet. GegnerInnen der Verschleierung setzen hier an: indem sie die Textstellen im Koran, in denen von der Bekleidung der Frauen die Rede ist, auf die weibliche Umgebung des Propheten einzugrenzen bzw. so auszulegen versuchen, dass es sich hier um keinerlei religiöse Vorschrift handelt.

Das allenthalben sichtbare Aufleben religiöser Gefühle durchzieht alle gesellschaftlichen Schichten und scheint gerade auch junge Menschen zu erfassen. Die Rückkehr zur Religion scheint im heutigen Tunesien gesellschaftlich im Trend zu liegen: Wer auch immer erzählt, er habe zu beten begonnen, wird dafür auch von nicht praktizierenden MuslimInnen mit Worten des Lobes bedacht, seit Jahren haben die (unter strenger staatlicher Kontrolle stehenden) Moscheen nicht nur im Fastenmonat Ramadan starken Zulauf. Kassetten mit Koranlesungen, religiösen Gesängen und Predigten aus den Ländern des Nahen Ostens sind Verkaufsschlager und bestimmte religiöse Programme arabischer Satellitensender, die etwa in der Hälfte der tunesischen Haushalte empfangen werden können, erfreuen sich wachsender Beliebtheit.

Die neue Religiosität, so der tunesische Journalist und Menschenrechtler Slaheddine Jourchi, stehe nicht für Opposition oder Subversion, sie ist nicht gegen Staat oder Regierung gerichtet (was wiederum ihre Tolerierung von staatlicher Seite erklärt): „Die Vorstellung vom Religiösen wird in großem Umfang von außen gestaltet. Sie kommt aus Ägypten oder aus den Golfstaaten.“ Jourchi unterstreicht in diesem Zusammenhang die Rolle der Arabisierung und die mit ihr einhergehende Hinwendung zum Orient. „Die Fernsehstationen der Golfstaaten haben das Niveau ihrer westlichen Konkurrenten erreicht. Sie haben an Glaubwürdigkeit und Vielfalt gewonnen. […] Jetzt ist die junge Generation durchdrungen von der arabischen Sprache, wie die vorherigen Generationen es vom Französischen (Antenne 2) und Italienischen (Rai Uno) waren. Heute kann man Modernität und Arabischsein verbinden, Modernität, Kultur und religiöse Praxis in Einklang bringen.“

In der Frage, um „welche Identität“ es sich handelt, sieht der tunesische Journalist Samy Ghorbal das „Herz des Problems“. Aufgrund des Nichtvorhandenseins von Ausdrucksmöglichkeiten im Lande und des Fehlens eines öffentlichen Raums für Debatten werde die entscheidende Frage beiseite gelassen. Die Identitätssuche ist rückwärts gewandt.