Alltäglicher Vierkampf ohne Medaillenchance

Elf Tage lang messen sich ab heute die besten körperbehinderten Sportler der Welt, bei den Paralympics in Athen. Mit dabei sind auch der Segler Olaf Jacobs und die Goalballerin Regina Vollbrecht. Doch auch fern vom Medaillenspiegel verlangt der Alltag der beiden BerlinerInnen viel Sportsgeist

VON STEFAN KLOTZ

Ab heute kämpfen 25 Sportler aus Berlin bei den Paralympics, den Olympischen Sommerspielen für behinderte Menschen, in Athen um eine Medaille. Regina Vollbrecht ist blind und tritt für das deutsche Team im Goalball an. Dabei müssen die drei Spieler einer Mannschaft verhindern, dass ein Ball, in dessen Innerem sich Glöckchen befinden, eine Torlinie überquert. Olaf Jacobs ist querschnittsgelähmt und segelt mit zwei Mitstreitern in der Sona-Klasse. Doch nicht nur in Boot und Turnhalle müssen die beiden Spitzenleistungen bringen.

1. Berufsalltag

Olaf Jacobs braust mit seinem Rollstuhl durch die Büroräume. Er muss sparsam mit seiner Zeit umgehen. Flink und wendig füllt der Chef einer Filmproduktionsfirma mit wenigen Handgriffen eine Tasse mit Kaffee, schon sitzt er wieder am Schreibtisch und erzählt von einer Leidenschaft. „Segeln ist eine Kombination vieler Elemente, wie Koordination, Technik und Fitness, die mir viel Freude macht“, erklärt der ab dem untersten Brustwirbel gelähmte Jacobs die Liebe zu seinem Sport. Der fördere die Geschicklichkeit, die ihm auch im Büro nützlich ist. Am Großsegel, das er bei der olympischen Regatta bedient, zählen Sekunden. So knapp geht es in seinem Beruf doch nicht zu. „Der Zeitdruck in manchen Produktionsphasen ist aber extrem“, gesteht er. Momentan werkeln Jacobs und seine zehn festen Mitarbeiter an einer Dokureihe über die Geschichte der großen Universitäten – mit dem Schauspieler Armin Müller-Stahl als Erzähler.

Im Büro von Regina Vollbrecht beim Berufsbildungswerk für Blinde und Sehbehinderte läuft es ruhiger. Die von Geburt an blinde Goalballspielerin sitzt meist vor dem Bildschirm. Unterhalb der Computertastatur befindet sich ein grauer Kasten, die Braille-Zeile. Dort erscheinen die Computertexte in den erfühlbaren Punkten der nach ihrem Erfinder Louis Braille benannten Blindenschrift. Die studierte Sozialpädagogin hat hier eine Vollzeitstelle. Sie unterstützt blinde Arbeitssuchende, verhandelt mit dem Arbeitsamt und sucht Ausbildungsbetriebe. Dabei steht sie weniger unter dem Druck der akustischen Zeitansage ihrer Armbanduhr als Olaf Jacobs unter der Ägide der Zeiger seiner Bürouhr.

2. Verkehrsteilnahme

Sosehr der Filmemacher in Firma und Boot mit seiner Zeit geizt, so oft muss er außerhalb dieser Domänen großzügiger damit umgehen. Manchmal muss er ordentlich Zeit investieren. Etwa am Flughafen Tegel. „Die Sicherheitskontrollen dort sind dilettantisch“, schimpft Jacobs. „Man wird in einen ungepolsterten Rollstuhl umverfrachtet und, bis es weitergeht, in irgendeiner Ecke abgestellt.“ Mit dem Nahverkehr ist er dagegen zufrieden. Laut BVG sind 60 Prozent der U-Bahnhöfe für Rollstuhlfahrer mit einem Lift erreichbar. Bei der S-Bahn sind es laut Betreiber rund drei Viertel. „Wenn eine U-Bahn ausfällt und es wird kein behindertenfreundlicher Ersatzverkehr eingesetzt, habe ich ein Problem. Aber man baut sich so seine Wege durch die Stadt“, resümiert der gebürtige Leipziger. Ist ein Aufzug mal defekt, klemmt sich Jacobs mit seinem Rolli und seinen zwei gesunden Armen schon mal auf eine Rolltreppe.

Ob Fahrstuhl oder Rolltreppe, macht für Regina Vollbrecht keinen großen Unterschied. Noch wichtiger für sie ist es, die Wege zu kennen. „Das Tasten mit dem Stock auf unbekanntem Gebiet ist anstrengend“, erklärt sie. Dann ist sie auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen. „Das klappt gut“, findet die seit drei Jahren verheiratete Frau. „Die Menschen sind sehr hilfsbereit.“ Bei der Deutschen Bahn kann Vollbrecht sich vom Servicepersonal nach vorheriger Anmeldung vom U-Bahn-Gleis zum Zug führen lassen. „Das braucht einfach mehr Zeit als bei Sehenden“, weiß sie. „Vor allem, wenn mich der Service doch mal vergisst“, ergänzt die gebürtige Mecklenburgerin lächelnd.

Die positiven Erfahrungen seiner Paralympics-Kameradin teilt Olaf Jacobs nicht in allen Bereichen. „Unterschiedlich“ reagieren Nichtbehinderte, die mit ihrem Auto einen Behindertenparkplatz blockieren, wenn Jacobs selbst auf Parkplatzsuche ist und auf das Verkehrsschild mit dem Rollstuhlfahrer deutet. „Bis auf Lkw-Fahrer, die jedes Recht der Welt für sich in Anspruch nehmen, haben viele ein Einsehen“, findet er.

3. Einkaufen

Im Supermarkt kommt Olaf Jacobs trotz Sportlichkeit ohne eine helfende Hand nicht an die Konfitüre in der obersten Regalreihe. „Generell habe ich den Luxus, Aufgaben an meine Mitarbeiter delegieren zu können“, so Jacobs. Regina Vollbrecht schickt öfter ihren Mann zum Einkaufen. Geht sie selbst, ist sie stark auf Mithilfe angewiesen, da Lebensmittel nicht in Blindenschrift ausgewiesen sind, wie man beim Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV) weiß. Doch das ist nicht das einzige Problem. „Beim Obstabwiegen muss jemand die richtige Taste an der Waage drücken“, bemerkt Vollbrecht. Bezahlen kann sie dagegen selbstständig. Die Münzen erkennt die passionierte Marathonläuferin an den unterschiedlich geriffelten Rändern, die Scheine an den unterschiedlichen Abmessungen. Dazu steckt sie die Banknoten in ein scheckkartengroßes Plastikstück, das den Scheinabmessungen entsprechend skaliert ist. Dann kann sie per Finger den Geldwert ablesen.

4. Ausgehen

So kann Vollbrecht ihren Mann auch an der Kinokasse einladen. Sie nimmt zwar nur etwas Hell und Dunkel wahr, geht aber gern ins Kino – meist in Begleitung. „Allein macht es keinen Spaß“, findet sie, wie die meisten Sehenden auch. Ihre Begleitung beschreibt ihr aber auch, was auf der Leinwand zu sehen ist. Manchmal laufen Filme auch mit Audiodeskription. Dann erklärt ein Erzähler dialogfreie Sequenzen. „Das beschränkt sich meist auf ein oder zwei Filme pro Jahr im Rahmen der Berlinale“, schränkt Volker Lenk, Sprecher des ASBV, ein. Es sei denn, der Streifen thematisiert das Blindsein selbst – wie etwa „Erbsen auf halb sechs“, der von der Liebe eines blinden Paares erzählte.

Trotz Augenlichts kann Olaf Jacobs die Kinofilme nicht immer sehen. „Manchmal sind die Rollstuhlplätze in der ersten Reihe, direkt vor der Leinwand. Das macht keinem Zuschauer Spaß“, sagt Jacobs. In 58 der 83 Berliner Filmhäuser kommt er aufgrund unüberwindbarer Treppen gar nicht erst rein. So muss er sich seine Wege anhand passender Lokalitäten „bauen“. „Statt des Konzerthauses am Gendarmenmarkt, wo ich hinter allen sitze und nichts höre, besuche ich die Philharmoniker. Da ist es anders“, sagt Jacobs, der nächstes Semester an der Uni Leipzig ein Seminar zur Filmwirtschaft gibt.

Ein weiteres Problem sind öffentliche Klos. „Ich meide sie, so gut es geht“, sagt Jacobs. Das gelingt weder ihm noch Vollbrecht immer. „Meistens finde ich mich schon zurecht, wenn ich weiß, wo Weiblein und wo Männlein ist“, sagt Vollbrecht. „Aber die Toiletten sind alle anders gebaut. Daher wird der Tag kommen, an dem ich den Notknopf in der Zugtoilette drücke, weil ich nicht weiß, wo die Spülung und wo die Seife ist“, fürchtet sie.

Insgesamt kann Olaf Jacobs den Alltag gut bewältigen. „Aber für schwerwiegender Gelähmte kann die Sache dramatisch schlechter aussehen“, gibt er zu bedenken. Nicht jeder Rollstuhlfahrer kann wie Jacobs mal auf eine Rolltreppe ausweichen. Für Regina Vollbrecht ist die freiwillige Hilfe ihrer Mitmenschen nur in kleinem Ausmaß durch gelegentliche Angebote, wie den Begleitservice der Bahn, zu ersetzen. „Berlin hat allein durch Größe und Bausubstanz ein höheres Potenzial, behindertengerecht zu sein, als etwa Leipzig“, findet Jacobs. Wenn die Athleten aus den handicapgerechten Quartieren in Athen zurückkehren, werden sie merken, ob Berlin dieses Potenzial goldverdächtig abschöpft oder ob es nur für eine Holzmedaille reicht.