Schreibende Weltenbummler

„Lettre International“ hat einen internationalen Reportagepreis ins Leben gerufen. Preisverleihung war in Berlin

„Der Reporter ist der Detektiv des Anderen“, hat der Mentor der zeitgenössischen Reisereportage, Ryszard Kapuscinski, treffend formuliert. Um dieses Andere ins Licht der globalen Öffentlichkeit zu stellen, hat Lettre International, Europas Kulturzeitung, einen internationalen Preis ins Leben gerufen. Er trägt den etwas langwierigen Titel „Lettre Ulysses Award for the Art of Reportage“ und wird seit 4. Oktober jährlich verliehen. Den Gewinnern winken Preisgelder bis zu 50.000 Euro, Hauptsponsor ist die Aventis Foundation, Nachfolgerin der Hoechst Foundation.

Am vergangenen Samstag wurde mit einem Festakt im Berliner Tipi – einem fest installierten Zelt in unmittelbarer Nachbarschaft des Kanzleramtes – der Lettre Ulysses Award for the Art of Reportage offiziell enthüllt. Die sieben Autoren, die in die Endauswahl gekommen waren, und die elf Juroren – der zwölfte, Elias Khoury, Vertreter des arabischen Sprachraums, fehlte aus unerklärten Gründen – hatten sich eingefunden, nebst „450 Gästen aus Literatur, Kultur und Politik“ (Veranstalterangabe).

Die Prozedur, die zur Kür des Siegers geführt hatte, zeugt vom Glauben an die Urteilskraft des Indivuums oder – anders ausgedrückt – von einer Geringschätzung der Empirie. Die zwölf Juroren aus den zwölf wichtigsten „Sprachräumen“ der Erde – von Lettre International handverlesen – waren gebeten worden, jeweils zwei Texte zu nennen, nach Möglichkeit, aber nicht zwingend aus ihrem Sprachraum. Aus diesen Texten wurden in einer ersten Sitzung sieben Texte ausgewählt, in einer zweiten die Sieger gekürt.

In die Endauswahl kamen: Ian Buruma mit seinem Buch „Bad Elements“ über chinesische Dissidenten, Nuruddin Farah mit „Yesterday, Tomorrow: Stimmen aus der somalischen Diaspora“, Jiang Hao mit „Die Schliche der Wilderer in der chinesischen Mongolei“, Adrian Nicole LeBlanc mit „Random Family: Love, Drugs, Trouble, and Coming of Age in the Bronx“, Anna Politkowskaja mit „Tschetschenien – Von Schrecken und Schande eines Krieges“, Linda Polman mit „We Did Nothing: Why the truth doesn’t always come out when the UN goes in“ und Mark Tully & Gillan Wright mit „India in Slow Motion“. Sie alle durften zur Feier des Abends kurze Abschnitte aus ihren Büchern lesen, nachdem zuvor die Rede von Lettre-Chef Frank Berberich im aufs Zeltdach prasselnden Regen untergegangen war und Ryszard Kapuscinski seinerseits den Griechen Herodot als den Mentor der Reportage ausgemacht hatte.

Die Lesungen gerieten leider etwas atemlos, da für 22 Uhr das Dinner angesagt war und ja auch noch der Sieger verkündet werden musste. Die nicht unbedingt auf Wortveranstaltungen eingerichtete Akustik des Tipi tat ein Übriges, die Konzentration zu erschweren – was schade ist, denn ein Blick auf die Website www.lettre.de, wo kurze Textauszüge der drei Sieger nachzulesen sind, verschafft einen Eindruck von der Qualität ihrer Bücher.

Längere Auszüge aus diesen Büchern sowie Texte der anderen Finalisten sind in der aktuellen Ausgabe von Lettre International (Nr. 62/9,80 €) abgedruckt – definitiv eine lohnenswerte Investition –, eine umfangreiche Dokumentation des Lettre Ulysses Award for the Art of Reportage findet sich unter www.lettre-ulysses-award.org.

MARTIN HAGER