Deutschland verfehlt Klassenziel

Das deutsche Bildungssystem hat im internationalen Vergleich enormen Nachholbedarf. Auf der Strecke bleiben immer noch sozial Schwache

VON ANNA LEHMANN
UND CHRISTIAN FÜLLER

Das deutsche Bildungssystem ist ineffizient, rückständig und perspektivlos. Das ist die niederschmetternde Bilanz, die der Chef-Bildungsforscher der OECD, Andreas Schleicher, gestern zog, als er den neuesten Bildungsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit vorstellte.

Die Studie „Bildung auf einen Blick“ fällt in der Summe kritischer aus als alle bisherigen Studien, weil Schleicher keine Perspektive bei den Bildungsreformen sieht: „Deutschland hat einen enormen Nachholbedarf – aber keine Vision, wo es mit seinem System hin will“, sagte Schleicher der taz.

Die wichtigste Kennziffer für die Entwicklung des Bildungssystems ist die Quote von Akademikern. Die ist trotz vieler Anstrengungen zu niedrig. Nur 35 Prozent der Schulabgänger beginnen ein Studium. Diese Zahl reiche gerade aus, „den demografischen Schwund an Akademikern auszugleichen“.

Fast überall in der OECD habe ein Perspektivenwechsel eingesetzt, der Bildung als wichtigste Investition ansieht. Das habe, so Schleicher, zu einem rasanten Aus- und Umbau der Bildungssysteme geführt. „In Deutschland aber wird Bildung immer noch als Konsum wahrgenommen“, bedauerte der Forscher. Die Ausgaben für Schulen stiegen in der OECD um 21 Prozent, die für Hochschulen um 30 Prozent. In Deutschland packten Bund, Länder und Gemeinden von 1995 bis 2001 aber nur magere 6 beziehungsweise 7 Prozent drauf.

Besonders deutsche Grundschulen und Kindergärten sind unterdurchschnittlich alimentiert. 4.230 Dollar gibt der deutsche Staat jährlich für ein Kindergartenkind aus, in der OECD sind es über 4.800 Dollar. In der Schule angekommen, hat der Nachwuchs dann 160 Unterrichtsstunden weniger als die international üblichen 788. Akademiker aber werden als kleine, teure Elite gezüchtet. Für sie steht das meiste Geld zur Verfügung: 10.500 Dollar wendet das Land pro Studierenden auf, 500 Dollar mehr als im OECD-Schnitt.

Eine gefährliche Schieflage, denn die Anzahl der Hochschüler stagniert. Zwar beginnt inzwischen jeder Dritte ein Hoch- oder Fachschulstudium, 14 Prozent mehr als 1998. Aber: „In bildungsbewussten Ländern wie Finnland und Korea sind es mittlerweile über 70 Prozent – das ist der Maßstab heute“, erklärte Bildungsforscher Schleicher.

Aus Schleichers Sicht ist das Problem, dass die Bundesrepublik zwar Hochqualifizierte braucht, Nachschub aus ihrem eigenen Bildungssystem aber gar nicht holen kann. Das Potenzial sei weitgehend ausgereizt, da Deutschland nur einen Anteil von 43 Prozent an Hochschulzugangsberechtigungen pro Jahrgang habe. Der Rest wird – je nach Bundesland – schon in der 4. oder 6. Klasse in Haupt- und Realschulen verwiesen.

Und das war das eigentlich Neue bei der gestrigen Vorstellung der Bildungsstudie. Seit der ersten Pisa-Erhebung im Jahr 2001 hatte sich Andreas Schleicher nicht oder nur sybillinisch zur Frage der Schulstruktur in Deutschland geäußert. Damit war gestern Schluss. „Im internationalen wissenschaftlichen Diskurs ist das deutsche gegliederte Schulsystem nicht mehr vermittelbar“, attackierte der 40-Jährige die dreigliedrige Schule. Der Pisa-Experte spottete gar, die anderen Länder seien es inzwischen leid, Studien über die komplizierte und ineffiziente deutsche Schule zu konzipieren. In der Tat erlaubt die Trennung der SchülerInnen nach der Grundschule kaum eine andere Schlussfolgerung aus Pisa.

Erwartungsgemäß bekam Schleicher für seine Äußerungen richtig Stress. Der Generalsekretär der Kultusminister, Erich Thies (CDU), fuhr ganz große Geschütze auf: Die Bildungsminister der 16 Länder überlegten nun, welche Konsequenzen sie aus dem Versuch Schleichers ziehen müssten, „deutsche Innenpolitik zu machen“. Und die Vizepräsidentin der KMK, Karin Wolff (CDU), warnte erneut vor einer neue Schulformdebatte in Deutschland.

Zu spät. Die empirischen Belege gegen dreigliedrige Schule sind so erdrückend, dass nach Wirtschaft und Wissenschaft nun auch die Politik klar Stellung bezieht. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) sagte, in Wahrheit sei die Schule nicht drei-, sondern siebengliedrig. Neben den Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen gibt es mit Gesamtschulen, diversen Sonderschulformen und Förderstufen einen echten Schulwirrwar. Sogar in der KMK selbst grummelt es. Mit dem anwesenden Vizepräsident Steffen Reiche (SPD) nahm erstmals ein KMK-Repräsentant das Wort Gesamtschule in den Mund – ohne sie zu brandmarken.

Die konsistenteste Kritik aber kam diesmal von der GEW. Die Bildungsgewerkschafter fragen die Kultusminister eindringlich, wann sie endlich das Kernproblem für Schulsystem und Industriegesellschaft angehen wollen: die soziale Spaltung. Es sei nun genug an allerlei Nebensächlichkeiten gebastelt worden, sagte die Schulpolitische Sprecherin der GEW, Marianne Demmer. „Die horrende soziale Ungerechtigkeit ist in keinem Bundesland bearbeitet worden.“ Demmer sagte der taz, die GEW habe bislang konstruktiv mitgearbeitet. „Nun wollen wir wissen, warum gegen die soziale Spaltung überhaupt nichts gemacht wird.“