Klein, grau, wahnsinnig

Hameln revisited: Die Rattenplage breitet sich in dem irren Städtchen rasant aus

„Achtung! Insassen leben in ihrer eigenen Welt. Bitte nicht füttern.“

Um die Stadt Hameln sollte man eine Mauer bauen. Hoch und dick sollte diese Mauer sein. Und auf der Außenseite müssten gut lesbare Warnschilder angebracht werden. „Achtung! Insassen leben in ihrer eigenen Welt. Bitte nicht füttern.“ Helfen würde das den Hamelnern selbstverständlich nicht, aber die Restwelt bliebe wenigstens verschont von den Auswirkungen des Schwachsinns, der sich bereits im vergangenen Jahr andeutete (Die Wahrheit berichtete am 14. 11. 2003) und nun die ganze Stadtbewohnerschaft ergriffen hat.

Wer in diesen schönen Septembertagen nach Hameln fährt, dem bietet sich schon jetzt das erschütternde Bild einer geschlossenen Anstalt. Die Hamelner haben sich nämlich Stück für Stück in einen regelrechten Rattenwahn hineingesteigert, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Überall in der Kleinstadt haben sie in einem Anfall von Raserei und Verblendung tausende und abertausende von mannshohen Rattenskulpturen aufgestellt. Es gibt keinen Winkel mehr, aus dem nicht ein Rattenkopf ragt, keine Straßenkreuzung, auf der nicht eine Ratte ihren Hintern in den Verkehr streckt, kein Lokal, vor dem nicht ein Rattenzahn bleckt.

Doch Hameln wäre nicht Hameln, wenn es nicht noch eine Steigerung des Irrsinns gäbe. Deshalb haben sich ausnahmslos alle Bäckereien entschlossen nur noch Brotratten zu backen: braune, spitzmäulige, schnurrbärtige Brote in allen erdenklichen Größen. An denen knabbern die Hamelner Tag und Nacht und murmeln unverständliches Zeug. Wenn sie Durst bekommen, schütten sie noch einen „Rattenkiller“ hinterher, einen übelriechenden Schnaps mit bedenklicher Farbe, der in allen Gasthäusern statt einem ordentlichen Getränk angeboten wird. Wem das noch nicht reicht, dem offerieren die Furcht erregenden Hamelner Wirte mit entrücktem Grinsen und flackerndem Blick auch noch „Rattenblut“. Dementsprechend sehen sie auch aus, die merkwürdig verformten Menschen in Hameln. Zum Frühstück Brotratten mampfen, am Mittag dann den Rattenkillerschnaps hinunterstürzen und abends am Rattenbluteimer saugen …

Schon sieht man Menschen, die mit hektischen Trippelschritten durch die Fußgängerzone huschen und mit malmenden Kiefern an den Mülleimern schnuppern. Die Hamelner mutieren zu Zwischenwesen mit vibrierenden Schnauzbarthaaren. Viele Wohnungen stehen mittlerweile leer, weil die Hamelner sich lieber in Abwasserrohren tummeln. Es ist bizarr. Es ist erschreckend. Kein Wunder, dass die Bundeswehr in Hameln nicht eingreifen will. „Zu risikoreich“, heißt es aus dem Verteidigungsministerium. Doch die Lage spitzt sich zu. Immer neue Busladungen voller Japaner verschleppen die Hamelner vom Bahnhof Hannover in ihre Stadt. „Lattensightseeing“ hört sich ja zunächst auch nicht so bedrohlich an. Doch kaum sind die Japaner im Zentrum des Irrsinns angelangt, werden sie von ganzen Horden verratteter Hamelner umzingelt und durch die Fußgängerzone geschleift. Man zwingt die verdatterten Japaner, „Lattenblot“, „Lattenkiller“ und „Lattenblut“ zu sich zu nehmen. Die Bremsschläuche der Reisebusse werden derweil von der Hamelner Dorfjugend kaputt genagt. Es gibt kein Entrinnen. Hunderte Japaner sind in Hameln bereits spurlos verschwunden. Ob sie noch leben, ob sie in Lagern eingesperrt oder zernagt wurden, weiß bislang kein Mensch. Und die internationale Staatengemeinschaft schweigt zu alldem. Dabei wäre es höchste Zeit, dem Treiben der völlig entfesselten Hamelner ein rasches Ende zu bereiten. Stattdessen organisieren sie das schauerliche Finale. Die Hamelner wollen eine Kultstätte bauen, einen Pilgerort für Gleichgesinnte, kurz: das Mekka der Ratten. Mitten in der Weser wollen sie mit Hilfe der versklavten japanischen Touristen eine gigantische Rattenskulptur von der Größe des Kölner Doms errichten. Eine Rattenmutter aus Stein, in deren Inneren sich der Rattentempel befinden soll. Schiffe sollen am Fuße der Ratte anlegen können und ein kompliziertes System aus Wendeltreppen soll den Aufstieg bis in den heiligen Rattenzahn ermöglichen. Von hier aus soll der noch zu bestimmende Hohepriester jeden Tag zum rituellen Nagen rufen. Alle Hamelner werden dann herbeiwuseln, an der Weser ihre Waschungen vornehmen und ein Stück Käse opfern. Dann werden sie den Gesängen des Rattenpriesters lauschen und die Barthaare kräuseln. Man sollte eine Mauer um Hameln bauen. Man sollte sie sehr dick und sehr bald bauen.

MATTHIAS THIEME