Die rote Fahne weitertragen

Als die 68er die Stadt eroberten, drehte Gerd Conradt seinen Film „Farbtest“. Der ist jetzt samt Remake im Rathaus Schöneberg zu sehen. Das lange Echo einer Bewegung in Rot fragt, was von der Revolution übrig blieb

Wo früher die Bewegung alles war, ist heute ein Zögern und Zagen eingetreten

Im Januar 1968 dreht Gerd Conradt als Student der dffb seinen ersten Farbfilm. Durch das grau verregnete West-Berlin rennen 14 junge Leute, immer die Hauptstraße entlang, und tragen dabei abwechselnd eine rote Fahne. Die Stafette endet im Rathaus Schöneberg, wo Conradts Kommilitone Holger Meins das Banner auf dem Balkon hisst, auf dem schon John F. Kennedy seinen berühmten „Ich bin ein Berliner“-Satz gesprochen hat. Nun korrespondiert das Gebäude nicht mehr mit dem Verbündeten in Übersee, sondern markiert farblich die Verwandtschaft zwischen Ost und West. Eine schöne Idee.

Aber es wird noch besser. 34 Jahre später macht sich in Stockholm der Kunstprofessor Felix Gmelin an ein Remake von Conradts „Farbtest“. Sein Vater hatte an der ursprünglichen Aktion teilgenommen, nun möchte Gmelin herausfinden, wie es sich für die Kinder von 68 anfühlt, ein politisches Zeichen zu setzen. Also laufen sie durch die schwedische Hauptstadt, reichen sich gegenseitig eine rote Fahne und als letzter Kandidat verschwindet Gmelin im Stockholmer Rathaus. Aufgehängt wird die Flagge dort allerdings nicht – dafür hatte die sozialistische Regierung von Stockholm die Genehmigung verweigert.

Seither geht es bergauf. Beide Filme wurden während der letzten Biennale in Venedig nebeneinander an eine Museumswand projiziert. Die Doppelinstallation sollte ein Sinnbild für den Titel der Ausstellung „Delays and Revolution“ sein: Wo früher die Bewegung alles war, ist heute ein Zögern eingetreten. Das empfindet auch der in Venedig lebende Ex-APO-Aktivist und Schriftsteller Gaston Salvatore, den Conradt beim Biennale-Aufbau getroffen hat. Während die rote Fahne für seine Generation noch an Inhalte gekoppelt war, sieht Salvatore im Remake nur eine leere Geste der Wiederholung: Die jungen Leute tun ihm leid, weil sie nichts mehr haben, woran sie glauben können und wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Aber stimmt diese Aussage überhaupt? Ist die schroffe Wertung des Alt-68ers nicht ungerecht? Immerhin hat Conradt im Laufe der Jahre schmerzlich feststellen müssen, wie naiv auch die Vorstellungen seiner Generation von einem freien, selbstbestimmten Leben waren. Schon kurze Zeit nach der Fahnen-Aktion schloss sich Holger Meins der RAF an und starb 1974 an den Folgen seines Hungerstreiks in der JVA Wittlich. Conradt dagegen entschied sich für die Kamera und leistete einiges an Trauerarbeit – sein biografisch geprägter Film „Starbuck Holger Meins“ kam 2002 ins Kino.

Insofern ist der doppelte „Farbtest“ auch ein Symbol für unterschiedliche Herangehensweisen. Das Original funktionierte wie ein spontanes Happening, das Remake ist eine konzeptuelle Studie, die danach fragt, ob und was man von der Vergangenheit lernen kann. Bei Conradt steht der Situationismus im Mittelpunkt, wird gezeigt, wie sich junge Leute mit der roten Fahne den Stadtraum erobern; dagegen betont Gmelin mit der Re-Inszenierung den ritualhaften Charakter der Veranstaltung. Und während der ursprüngliche Film recht selten öffentlich zu sehen war, wurde das Remake bewusst für den Kunstmarkt und Museen produziert, als Impression aus dem urbanen Alltag.

Trotzdem kann Conradt mit der Gegenüberstellung zufrieden sein. Der Brückenschlag zwischen den Generationen gibt dem Projekt neuen Auftrieb, demnächst soll eine weitere Version der Stafette in Hongkong gedreht werden. Dass „Farbtest 1“ zum 90. Geburtstag des Rathauses Schöneberg nun am Originalschauplatz gezeigt wird, zeugt aber auch von einiger Gelassenheit im Umgang mit der Geschichte. Der Kampf ist vorbei, die Menschen rennen weiter.

HARALD FRICKE

Zur Aufführung von „Farbtest“ wird Gerd Conradt heute Abend, 19.30 Uhr, im Rathaus Schöneberg mit ehemaligen Mitstudenten diskutieren, die an der Aktion beteiligt waren.