Um Gottes Willen

In Baltimore kämpfen Ärzte um des Leben der siamesischen Zwillinge Lea und Tabea aus Lemgo.Die Medien berichten über jedes Detail. Und verbreiten die ultrachristliche Botschaft der Eltern

VON JAN FEDDERSEN

Am Wochenende musste die Operation abgebrochen werden, es habe Komplikationen beim Stoffwechsel der Patientinnen gegeben. Seither liegen die einjährigen Zwillinge Lea und Tabea aus Lemgo in der Klinik von Baltimore an der amerikanischen Ostküste in einem künstlichen Koma, kreislaufschonend und bewusstlos harrend auf das, was ihnen in den kommenden Wochen bevorsteht und was eben vor wenigen Tagen nicht gelang: dass ein Ärzteteam unter Leitung des neurochirurgisch spezialisierten Arztes Benjamin Carsen beide vom Schicksal befreit, ein Leben als so genannte siamesische Zwillinge zu führen. Die Operation könnte, nicht unwahrscheinlich, tödlich ausgehen: Das vor allem macht für das Publikum den Reiz aus!

Dass die Öffentlichkeit über Ostwestfalen Lemgo hinaus überhaupt von den beiden Mädchen weiß, liegt an der Illustrierten Stern und seiner auf RTL unter Leitung von Günther Jauch mittwochs ausgestrahlten Show „Stern TV“: Von ihnen wurden ihre Eltern exklusiv unter Vertrag genommen – und bei al- lem Mitgefühl, das die Mitarbeiter beider Medien für die Familie aufbringen mögen: Im Sinne der medialen Logik hat es sich für sie und die Unternehmen, für die sie arbeiten, schon gelohnt. Die Einschaltquoten waren gut.

Was aber fasziniert an der Geschichte von Lea und Tabea, was an all den anderen Storys über Zwillinge, die körperlich zusammengewachsen zur Welt kamen? Ist es mehr als die Angst-Lust an der Zurschaustellung von Behinderten? An der Sicht auf Menschen, die versehrt zur Welt kamen, geistig oder körperlich? So wie einst Monster in Zirkusmanegen? Dass jeder Zuschauer erkennt, was das Schicksal – Zufall, Gott: je nach Gemütslage – an Möglichkeiten bereithält? Angst vor einem Leben als Behinderter, Lust am (eigenen) Mitgefühl? Angst vor eigenen Versehrtheiten, nackte Schaulust?

Die Medienshow aus Baltimore enthält, von den Nachrichtenagenturen (mit Hintergrundberichten bis Eilmeldungen) wie eine minutiöse Seifentragödie inszeniert, jedenfalls eine perfekte Mixtur für das Publikum, das erstens ein Herz für Kinder und zweitens einen Sinn für die letzten Fragen hat: Man nimmt Anteil an medizinischen Bulletins, kennt sich instantmäßig aus in den Finessen dieser kompliziertesten aller Operationen – der Trennung zweier Menschen, die, wenn man so will, Gott als einen Menschen geplant hat. Wie schafft es der Kreislauf? Haben die Radiologen alle Blutgefäße der Köpfe erkannt? Werden die Kinder auch keine Schlaganfälle erleiden, wenn denn ihre Köpfe separiert werden?

Doch die Gefühle des Publikums den Eltern gegenüber sind keineswegs nur angenehm. Der Stern berichtet aus Internetforen, dass manche Menschen den ganzen Zirkus für entsetzlich, ja obszön halten – fragend, weshalb die Eltern sich zu keiner Abtreibung haben durchringen können, zumal bei pränatalen Untersuchungen erkannt wurde, dass ihre Zwillinge an den Hinterköpfen aneinander gewachsen zur Welt kommen würden. Aber eine Abtreibung war für Nelly, 27, und Peter, 28, nicht in Frage gekommen – beide gehören der Mennonitischen Kirche an, einem Zweig des „calvinistischen Christenzeugnis“, der Sexualität als Fortpflanzungsveranstaltung begreift und Abtreibung dementsprechend konsequent als Verbrechen.

Mutter Nelly sagte dies auch im Stern-Interview: dass „Abtreibung Mord gewesen wäre“. Vater Peter ergänzte dies mit seiner Wahrnehmung darüber, „wie sehr Mütter nach einer Abtreibung leiden“, viele „nimmt das ein Leben lang mit“. Gegen dieses Verständnis von Ehe und Zweisamkeit ist nicht zu argumentieren – dass die Frau, genau gelesen, stets schon Mutter zuvörderst ist, einerlei, ob sie Kinder möchte oder nicht. So gesehen mag geschmacklos klingen, wenn man diesen Eltern unterstellt, sie instrumentalisierten ihre Kinder bewusst für ihre Mission. Mutter Nelly unverblümt: „Wenn nur zwei oder drei Frauen umdenken, weil sie von uns gehört haben, und nicht abtreiben, dann hätte sich unser langer, schwerer Weg schon gelohnt. Weil sie ja bei uns sehen können, dass es selbst in der schlimmsten Situation noch möglich ist, ein Kind anzunehmen und die Hoffnung nicht zu verlieren.“

Wie könnte diese Passage anders gelesen werden denn als Desinteresse am, in ihrer Logik, gottgewollt Zusammmengewachsenen? Hätte ER, so gesehen, die Kinder getrennt zur Welt kommen lassen wollen: Hätte ER dies etwa nicht möglich gemacht? So bleibt nur eine einzige Botschaft übrig: Frauen, die sich der Moral der Lemgoer Mennoniten verschließen, müssen ein schlechtes Gewissen haben.