Mini-Matrioschka

Die Liebe ist eine chronische Krankheit: Viktoria Tokarjewas Roman „Eine Liebe fürs ganze Leben“

„Ihr Leben war einfach und schwierig zugleich. Wie übrigens bei allen Menschen“ – mit diesen Worten führt Viktoria Tokarjewa ihre Protagonistin Irina Iwanowna Gusko ein. Irina, das soll deutlich werden, führt ein durchschnittliches Leben: Kindheit, dann ein Lehrerinnenstudium, die Heirat, ein Kind. Müde kommt der Ehemann aus der Fabrik. Er trinkt, es gibt Streit, ein zweites Kind kommt, kurze Zeit später ist Irina allein. Die Kinder wachsen heran. Gerade aber als Irina verstanden hat, dass in Bezug auf die Liebe nichts mehr zu erwarten ist, als sie sich eingerichtet hat in ihrer duldsamen Existenz, da macht ihr „das Schicksal ein fürstliches Geschenk“.

Es ist ein Irrtum, ein falsch verbundenes Gespräch: „Bitte, rufen Sie Dshamal ans Telefon.“ Es ist dieser erste Satz, der immer wieder fallen wird: Als der Anrufer Kjamal längst der Geliebte ist und nach Erdbeeren riecht, nach Johannisbeerblättern und trockenem Heu, auch später, als er nach Jahren anruft. „Wie werde ich dich erkennen?“, wird er wieder fragen, und Irina entgegnet wie damals: „Ich werde einen schwarz-weiß getüpfelten Schal tragen. Wenn ich dir nicht gefalle, gehst du einfach vorbei.“

In schlichten Sätzen, in denen Irina an der Welt staunt und sich nicht ohne Pathos ihr Horizont der Beschränkung entfaltet, nehmen die Dinge ihren Lauf. Zwischen Haushalt, Schule und Liebesverhältnis lernt Irina ihre Lektion: „Offenbar war Grausamkeit ein Teil des Lebens und gehörte dazu.“ Der muslimische Aserbaidschaner Kjamal wird die Russin Irina nicht heiraten. Dass er eine Familie gründet, erfährt sie zunächst nicht. Man trifft sich einfach weiter, nach strengerem Zeitplan und nicht mehr über Nacht. Dann kommt die Perestroika, und Irina flieht nach Moskau, zu den Kindern. Von Kjamal bleibt die Erinnerung: „Die Liebe, wenn sie echt ist, bleibt für immer in einem Menschen. Wie eine chronische Krankheit.“

Ein Versprechen also hält die Liebe längst nicht mehr bereit. Irina fasst einen neuen, letzten Zukunftsplan: das Alter im Kreis der Kinder zu verbringen. Die aber haben längst ein eigenes Leben. Auf Dauer bleiben kann die Mutter nicht. Keine Wohnung, keine Arbeitserlaubnis. Irina beginnt, als Haushaltshilfe zu arbeiten. Immer mehr wird sie zur Beobachterin des eigenen Lebens, das weitergeht, sich an ihr vollzieht. Immer mehr versteckt sich „der frühere Mensch“, wie die letzte, winzige Puppe in einer Matrioschka.

„Eine einfache Russin“, so denkt sich Anna, die Kardiologin, deren Haushalt Irina führt. Da Irina immer gestaltloser wird, scheint es fast, als habe Viktoria Tokarjewa ebenso das Interesse an ihrer Hauptfigur verloren, wie diese an sich selbst. Oder lässt sich nur so, indem der Roman seine Protagonistin verliert, vermitteln, dass sie „kein eigenes Leben“ mehr hat? Am Ende gehört Irina ganz der Vergangenheit. Sie wird die kleinste Matrioschka nicht mehr verlassen.

KATRIN KRUSE

Viktoria Tokarjewa: „Eine Liebe fürs ganze Leben“. Aus dem Russischen von Angelika Schneider. Diogenes, Zürich 2003, 147 Seiten, 15,90 €.