Masturbation ist gesund

Werner Bartens’ „Lexikon der Medizin-Irrtümer“ analysiert kuriose Mythen und kritisiert scharfsinnig das Medizinsystem

VON CHRISTIAN WEYMAYR

Lesen bei Schummerlicht schadet den Augen; zu viel Salz essen erhöht den Blutdruck; Dicke sterben früher als Dünne. Diese Beispiele aus dem reichen Fundus medizinischer Weisheiten haben eins gemeinsam: Sie sind falsch.

Warum das so ist, erzählt Werner Bartens in seinem unterhaltsamen „Lexikon der Medizin-Irrtümer“. Die Legende vom gefährdeten Augenlicht ist wohl als Energiesparmaßnahme aus früherer Zeit zu interpretieren; wie sich der Salzkonsum auf die Gesundheit auswirkt, ist wissenschaftlich völlig offen, und am längsten leben die Normalgewichtigen.

Die „Halbwahrheiten, Vorurteile und fragwürdigen Behandlungen“, so der Untertitel des Buches, ergeben einen bunten Themenmix, der von der politisch brisanten These über die medizinische Lehrmeinung bis hin zur Küchenweisheit reicht. Den Glauben, dass Vorsorge Kosten spart, erschüttert Bartens ebenso wie die Hoffnung der Mediziner auf die Stammzelltherapie. Unter den Stichworten von A wie Abtreibung bis Z wie Zecken finden sich selbst historische Exkurse zu den Selbstversuchen wagemutiger Ärzte.

Aha-Erlebnisse beim Lesen sind kein Wunder. Schließlich pflegt wohl jeder Grundsätze aus seinen Kindertagen oder verlässt sich auf allgemein anerkannte medizinische Ratschläge. Dass dabei die Realität oft auf der Strecke bleibt, belegt Bartens ein ums andere Mal. Bei der Themenbreite des Buchs wäre es jedoch falsch, nur exklusive Enthüllungsstorys zu erwarten. Wer Skandale am Fließband aufdeckt, arbeitet meist nicht seriös. Bartens dagegen schon: Er zitiert überwiegend aktuelle Fachpublikationen, also Wissen aus erster Hand.

So kann man lernen: Masturbieren ist nicht schädlich, wie noch unsere Großväter gern behaupteten. Im Gegenteil: Viele Samenergüsse, so zeigte 2003 eine Studie, fördern die Gesundheit, weil sie das Prostatakrebs-Risiko senken. Eher kurios sind Bartens’ Anmerkungen zu dem Vorurteil, dass Ohrenschmalz bei allen Menschen gleich ist. Der Ohrenkleister der Asiaten, so lehrt uns das Lexikon, ist eher von krümeliger als schmalziger Konsistenz – keine bahnbrechende Erkenntnis, aber eine Randnotiz, die allemal vier Zeilen wert ist. So hat das Buch von allem etwas: Es ist Kritik am Medizinsystem, unterhaltsame Anekdotensammlung und Enthüllungswerk zugleich.

Um die Themen für sein Lexikon zu finden, brauchte Bartens wohl nur in seinen Zettelkasten zu greifen. Als studierter Arzt und Medizinredakteur der Badischen Zeitung hatte er ausreichend Gelegenheit, Kurioses und Wissenswertes zu sammeln. Auch konnte er auf sein Buch „Was hab ich bloß?“ (Droemer, 2003) zurückgreifen, einen mit unzähligen authentischen Beispielen gespickten Bericht über vermeintliche Krankheiten, fehlgeleitete Diagnosen und aufgebauschte Leiden.

Beide Bücher passen in die Reihe der jüngst publizierten Werke, die den Medizinbetrieb kritisieren. Dazu gehört das Erfolgsbuch „Die Krankheitserfinder“ von Jörg Blech (S. Fischer, 2003), das die Pharmaindustrie als Drahtzieher eines aufgeblähten Gesundheitssystems brandmarkt und Ärzte wie Patienten als Opfer in Schutz nimmt. Das kurz davor erschienene „Was hab ich bloß?“ hält dagegen dem Leser selbst den Spiegel vor. Schließlich sucht ja der Patient nach Erklärungen für seine vorhandenen oder nicht vorhandenen Leiden.

Blech nimmt den Leser dabei weit weniger ernst als Bartens, der sehr wohl zwischen schweren, behandlungsbedürftigen Formen und bloßen Unpässlichkeiten differenziert. Blech tut jede Krankheit, die nicht in sein Argumentationsschema passt, als erfunden ab und brüskiert damit die wirklich Leidenden. Kritik am Medizinbetrieb übt auch Klaus Dörner in „Die Gesundheitsfalle“ (Econ, 2003). Dieses hervorragende Buch macht zudem Vorschläge, wie sich Arzt und Patient annähern könnten. Dörners Gedankenwerk bildet so etwas wie den geistigen Überbau zu den anderen medizinkritischen Büchern.

Wie schon in „Was hab ich bloß?“ biedert sich Bartens in seinem „Lexikon der Medizin-Irrtümer“ dem Leser nicht an, sondern bleibt bei seiner unbestechlichen Linie. Auf systemkritische Passagen folgen unvermittelt Angriffe auf alternative Lebensweisheiten: Unbeirrt kratzt Bartens am Glorienschein der Vitamine, legt sich für Impfungen ins Zeug und leugnet überzeugend die Existenz einer „Krebspersönlichkeit“.

Würde in nächster Zeit eine zweite Auflage ins Auge gefasst, was äußerst wünschenswert wäre, sollte Bartens die historischen Exkurse herausnehmen, die zwischen den aktuellen Themen ein wenig befremdlich wirken. Sie sind ein eigenes Buch wert. Wenn sich so Platz für etwas ausführlichere Erklärungen an der ein oder anderen Stelle erreichen ließe, wäre das ein Gewinn.

Werner Bartens: „Lexikon der Medizin-Irrtümer. Vorurteile, Halbwahrheiten, fragwürdige Behandlungen“. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004, 352 Seiten, 22,90 Euro