FÜR EINE ENTSCHULDIGUNG BEI HELMUT KOHL GIBT ES KEINEN ANLASS
: Im Zweifel für den Dilettanten

Selten wurde eine Ermittlung mit einer so seltsamen Begründung eingestellt wie das Verfahren wegen der verschollenen Akten in Helmut Kohls Kanzleramt. Die Staatsanwälte sind zu der Überzeugung gekommen, dass es nicht einmal einen Hinweis auf eine strafbare Handlung der früheren Bundesregierung gibt. Man muss diese Auffassung nicht unbedingt teilen. Schließlich besteht kein Zweifel daran, dass 1998 im Kanzleramt ein ganzes Mittelgebirge von Akten über die pikante Privatisierung der DDR-Raffinerie Leuna und sieben weitere Privatisierungen einfach verschwunden ist. Angesichts der Liebe zur Ordnung, die sich sonst in deutschen Behörden weiter Verbreitung erfreut, mag man hier nicht zwingend an einen Zufall glauben. Trotzdem können die Staatsanwälte bei dem Vorfall nicht einmal ein Motiv für eine Straftat erkennen, weil ja Kopien der Akten im Bundesministerium der Finanzen vorgelegen hätten.

Man kann aufgrund dieser Tatsache einen Tatverdacht verneinen. Man kann aber auch zu der Vermutung kommen, dass die Vernichtung von Beweismitteln lediglich alles andere als professionell betrieben worden ist. Mit der Entscheidung setzt die Staatsanwaltschaft neue Maßstäbe: Nur selten wurde bisher bei der Einstellung eines Verfahrens lobend hervorgehoben, dass der Verdächtige die Indizien nur dilettantisch beseitigt hat.

Offen bleibt angesichts des freizügigen Umgangs mit Dokumenten die Frage, ob auch andere Informationen beiseite geschafft worden sind, von deren Existenz weder die Staatsanwälte noch die Öffentlichkeit je erfahren werden, weil das Finanzministerium leider keine Kopien davon gefertigt hat. Selbstverständlich ist eine Ermittlung einzustellen, wenn dem Beschuldigten nichts nachzuweisen ist. Fehlende Beweise beweisen jedoch noch lange nicht, dass keine Straftat vorliegt – auch eine Staatsanwaltschaft sieht nicht, was sie nicht sieht. Über das Unbekannte weiß man nichts. Einen Anfangsverdacht aber rechtfertigen die fadenscheinigen Vorkommnisse beim Auszug aus dem Kanzleramt allemal. Für eine Entschuldigung gibt es somit keinen Grund. ANDREAS SPANNBAUER