Mostar lebt wieder

Eine taz-Leserreise durch Bosnien-Herzegowina konfrontiert die zehn Teilnehmer mit großem Leid. Nur wenige Flüchtlinge sind in ihre zerstörte Heimat zurückgekehrt, um dort neu anzufangen

von HENK RAIJER

Nach einem Hinweisschild sucht man in Bratunac vergebens. Linksherum geht’s zur Drina an der Grenze zu Serbien, nach rechts zeigt nur ein winziger Pfeil mit der Aufschrift OSZE die Richtung an. Bis nach Srebrenica sind’s nur acht Kilometer, doch für die serbische Bevölkerung hier liegt der Ort am anderen Ende der Welt, namentlich wenn Besuch aus der Fremde sie zwingt, sich zu erinnern.

Je mehr sich das Tal verengt und den Blick auf die verkohlten Häusergerippe an den Hängen freigibt, desto lauter das Schweigen im Bus. Keiner der zehn Teilnehmer der taz-Leserreise durch Bosnien-Herzegowina kann sich so kurz vor Erreichen der ehemaligen Moslemenklave im Osten der serbischen Teilrepublik dem Albtraum jenes Massakers entziehen, dem am 11. Juli 1995 über 7.400 Männer zum Opfer fielen. Erst recht nicht nach dem Besuch der Gedenkstätte Potočari, wo rund 1.000 frisch aufgeworfene Erdhügel Zeugnis davon ablegen, dass zumindest ein Teil der in Massengräbern Verscharrten inzwischen identifiziert wurde, die Opfer heute einen Namen haben.

Das Ortsschild mit den kyrillischen Buchstaben auf gelbem Grund signalisiert sogleich, wer heute im früher mehrheitlich von Muslimen bewohnten Srebrenica das Sagen hat. 8.000 bosnische Serben leben in der einst florierenden Silberstadt, die vor der „ethnischen Säuberung“ gut 40.000 Einwohner zählte. Gerade mal 1.000 Angehörige der muslimischen Gemeinschaft sind in die heute wirtschaftlich verkümmerte, zerschossene und ausgebrannte Geisterstadt zurückgekehrt. Eine von ihnen ist Hatidža Mehmedović, deren Mann und zwei Söhne ermordet wurden und die heute als Vorsitzende der „Mütter von Srebrenica“ ihre ganze Lebenskraft aus dem Engagement für die Rückkehrerinnen bezieht.

Hatidža will berichten, immer wieder. „Die Wahrheit muss rauskommen, damit die Kinder sie erfahren“, erklärt die energische 52-Jährige den Gästen aus Deutschland. Diese werden umso stiller, je lebendiger Hatidža von den Grausamkeiten erzählt. „1995 hat mir Gott die schlimmste aller Strafen auferlegt“, sagt sie. „Ich will, dass die Schuldigen bestraft werden.“ Hass jedoch empfinde sie nicht. „Alle sollen nach Srebrenica zurückkehren“, meint Hatidža. Doch auch sie weiß: „Die Stadt wird sterben.“

Kozarac lebt wieder. Von den 5.000 Einwohnern, die im Mai 1992 vertrieben wurden oder flüchteten, sind 3.000 zurück im Dorf. Kozarac war und ist eine muslimische Insel in der serbischen Teilrepublik, unweit der Stadt Prijedor. Die zerstörten Moscheen sind wieder aufgebaut, beidseits der Hauptstraße wird gehämmert und gemauert.

Auch Muhidin Śarić, der 1992 mit Hilfe serbischer Freunde nach Österreich fliehen konnte und später seine Erfahrungen in dem Buch „Keraterm. Erinnerungen aus einem serbischen Lager“ verarbeitete, hat sein Haus in Kozarac wieder aufgebaut. Lehrer Śarić empfängt die Gruppe um taz-Korrespondent Erich Rathfelder in der Dorfschule. Wie es für ihn als Moslem sei, in dem Wissen um das Geschehene hier weiter zu leben, fragt Karin (35), Slawistin aus Regensburg. – „Wir bauen auf, die Leute wollen vergessen“, sagt der 59-Jährige. „Aber aus jeder Fassade starrt mich ein totes Gesicht an. Ich bin froh, dass die Kinder nicht sehen, was ich sehe.“

„Wie erklärt man Schülern das, was geschehen ist“, will Matthias (48), Musiker aus Halle, wissen. – „Es ist schwer, die Version der Eltern und der ethnischen Schulen zu hinterfragen. Aber wir sind dabei, den Nationalismus und all das, was eine der Volksgruppen provozieren könnte, aus dem Lehrmaterial zu entfernen“, sagt Śarić. „Und da haben wir hier mit Hilfe der EU schon einen Schritt zur Versöhnung gemacht.“

Miodrag Zivanović, der es im Alltag mit jungen Erwachsenen zu tun hat, teilt diesen Optimismus nicht. „Die dominante Ideologie in diesem Land ist der Nationalismus. Auch acht Jahre nach dem Krieg werden die Menschen hier nach Ethnien kategorisiert“, sagt der Serbe, der als Soziologieprofessor an der Universität von Banja Luka, der Hauptstadt der serbischen Teilrepublik, tätig ist. „Wir haben keinen Staat, keine funktionierende Wirtschaft, keine Sozialstruktur, nur eine amorphe Masse. – „Und die Jugend?“, fragt Stephan (48), Geschäftsführer aus Hamburg. – „Die wird religiös oder zieht ins Ausland.“

Ob denn eine Bildungsreform dazu beitragen könne, junge Leute zum Bleiben zu bewegen, will Stephan wissen. – „Schulen und Universitäten sind von den ethnischen Parteien kontrolliert“, sagt Zivanović, der selbst Mitglied einer liberalen Partei ist. – „Tragen die Studierenden ihre ethnischen Animositäten in den Hörsaal?“, fragt Annegret (54), Ärztin aus Würzburg, die feststellt, dass Plakate und Zettel in den Räumen der Uni, an der Muslime nur drei Prozent der Studenten stellen, in kyrillischer Schrift verfasst sind. Zivanović: „Das Böse hat sich in den Seelen festgesetzt.“

In den Bars der Stadt paradieren junge Männer ungeniert mit T-Shirts, auf denen das Konterfei des gesuchten Kriegsverbrechers Karadžić prangt. „Banja Luka ist heute ethnisch rein“, erklärt ein älterer Kroate, der wie 70.000 weitere Katholiken aus der Umgebung vertrieben wurde, aber als einer von wenigen zurück gekehrt ist. „Wirtschaft und Verwaltung arbeiten darauf hin, alle Sektoren zu serbisieren“, sagt der Mann, der sich nur im Schutz einer Kirche äußern mag. – „Wie reagieren denn Ihre serbischen Nachbarn auf Sie?“, will Karin wissen. – „Sie wollen reden, erwarten meine Absolution, aber ohne Reue zu zeigen.“

Vom Krieg gezeichnet sind nicht nur die Seelen. Die Wunden, die die serbische Belagerung dem Stadtbild Sarajevos zugefügt hat, sind ebenfalls von Dauer: das durchlöcherte Fernsehgebäude, das rußgeschwärzte Parlamentshochhaus, die Spuren millionenfacher Einschüsse in der „Snajper-Allee“. An vielen Ecken der bosnischen Hauptstadt wurde gestorben, sei es beim Brotkauf, sei es beim Wasserschöpfen am Fluss.

Mehmed Alićehajić, der so manchen „Karadžić-Kuss“ nur knapp überlebt hat, kennt jeden Winkel, zeigt Besuchern die Frontlinien und die notdürftig geflickte Nationalbibliothek, aber auch den Basar aus der osmanischen Zeit. Der pensionierte Deutschlehrer lebt wie viele Demokraten im Streit mit der eigenen Nation – vor allem mit der regierenden muslimischen nationalen Partei SDA von Expräsident Alija Izetbegović. „Der verteidigte Bosnien im Krieg nicht als multiethnischen Staat, sondern als muslimische Entität – und lieferte damit Serben und Kroaten erst die Legitimation zur Aggression“, meint der 69-Jährige. – „Auch heute bestimmt in Sarajevo die Religion die Politik“, pflichtet ihm sein Freund, der Islamexperte Esad Bajtal, bei. „Was wir hier brauchen, sind religionsunabhängige, verfassungsmäßige Rechte für alle Bosnier. Izetbegović und seine Leute sind bereit, Bosnien für den Islam zu opfern. Ich nicht!“, wütet der 53-Jährige und erklärt der Gruppe das Wirken islamischer Fundamentalisten aus Saudi-Arabien, die mit Billigung der Regierung den Bau von über hundert Moscheen und Koranschulen finanzierten. – Ob denn nicht die Verfassung die Trennung von Kirche und Staat vorschreibe, fragt Stephan. – „Wir haben eine Dayton-Verfassung“, so Bajtal. „Und die Geistlichkeit nutzt die Gunst der Stunde, um eine säkulare Verfassung zu verhindern.“

Auch für den Exgeneral Jovan Divjak sind die Verlierer in Sarajevo die Bürger: „Sie haben wie ich als Bosnier ihre Stadt verteidigt. Heute erleben sie, wie die nationalistische Führung Nichtmuslime und Demokraten muslimischen Glaubens ausgrenzt.“ Divjaks persönliche Tragödie ist, dass er als Serbe gegen Serben gekämpft hat, sich dann aber von den Nationalisten getäuscht sah. „Heute glaube ich nur noch an die Jugend“, sagt der frühere Vizekommandeur der bosnischen Armee, der den Dienst quittierte und heute einem Verein vorsteht, der sich des Schicksals der Kriegswaisen annimmt.

Wie Sarajevo wurde auch Mostar, die alte Hauptstadt der Herzegowina, nahezu vollständig zerschossen. Zwar wurde der Wiederaufbau der orientalisch geprägten Altstadt mit Geldern der EU zügig in Angriff genommen; sogar die weltberühmte steinerne Brücke über die smaragdgrüne Neretva soll Anfang nächsten Jahres wieder beide Teile Mostars verbinden und wie früher Touristen anlocken. Doch nach wie vor liegen ganze Straßenzüge in Trümmern, von den einst 120.000 Einwohnern leben heute 40.000 im Ausland. Und wie im Krieg trennt die „Grenzstraße“ die von Bergen eingeschlossene, mediterran geprägte Stadt in einen kroatischen und einen muslimischen Teil.

Mostar zählt zwei Universitäten, zwei Energieversorger und zwei Busbahnhöfe. Und wer vom Ostteil in den Westteil telefonieren möchte, muss in Sarajevo die Verbindung beantragen. Der Turm der neuen katholischen Kirche im Westteil ist höher denn je, im Ostteil bauen Saudis eine Moschee von einer Pracht, wie sie dem bosnischen Islam völlig fremd ist. Als Christoph (43), Ingenieur aus Aachen, einen Journalisten fragt, warum in Mostar der Krieg so heftig war, antwortet dieser: „Weil die Unterschiede so gering sind.“