Zwei Kratzer, nichts Eindeutiges


Eine alte Frau soll kochend heißes Essen bekommen haben, die Chefin bestreitet das

aus Essen FRIEDERIKE GRÄFF

Das Publikum ist nicht auf der Seite von Frau H. und Herrn K., so viel ist sicher. „So jemanden würde ich nicht verteidigen“, sagt ein Zuschauer, und niemand widerspricht. Frau H. und Herr K. haben Pflichtverteidiger, zwei Brüder, von denen der eine fast nichts und der andere wenig sagt. Der Jüngere sieht ein bisschen aus wie Robert Redford, er ist Vorsitzender im örtlichen Tennisverein. Wenn Herrn K. ihn anspricht, hält er sich die Hand übers Ohr, es sieht aus, als klappte ein Abstandshalter aus.

Frau H., 59, und Herr K., 61 Jahre alt, sind vor dem Essener Landgericht wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen angeklagt. Ihrem Schutz befohlen waren alte Leute, einige davon geistig verwirrt und, so sagt es eine der Pflegerinnen, „hilflos wie kleine Kinder“. Haus Charlotte, so haben sie ihr Altenheim genannt, aber die Bild-Zeitung hat „Horrorhaus“ geschrieben, weshalb Herr K. sie noch verklagen will. Er war früher Maurer, ein massiger Mann mit rotem Kopf. Neben seinem Anwalt sitzt seine Lebensgefährtin, Karin H., mit graublondem Haar und Halstuch. Sie wird hier wohl noch bis Mitte Oktober auf ein Urteil warten. Vor einigen Tagen haben ihre früheren Angestellten ausgesagt und ihnen vorgeworfen, die Heimbewohner schikaniert zu haben – aus Geldgier und aus Bosheit.

Herr K. und Frau H. haben Teilgeständnisse abgelegt und kleinere Vergehen gestanden. Sie hat zugegeben, mit „schwacher Gewalt“ einer Patientin Flüssigkeit eingeflößt zu haben, er hat einer Bewohnerin einen Waschlappen in den Mund gestopft. Dass sie Bewohner eingesperrt oder mit Medikamenten ruhig gestellt hätten, streiten sie ab, genauso wie alle anderen Vorwürfe der Pflegerinnen. Vielleicht hat ihnen jemand geraten, Bagatellen zuzugeben, etwas, von dem man vermutet, dass es in vielen Heimen vorkommt, und dieser Rat wäre vernünftig und trostlos zugleich. Es ist unklar, was sich in diesem Prozess nachweisen lässt, und der Grund dafür ist wohl das Trostloseste in dieser Geschichte: dass es nur wenige interessiert hat. Die Heimaufsicht eher spät, so scheint es, und viele Angehörige kaum – weil sie anderes zu tun hatten und weil eine Verlegung Mühe macht, die Anträge, der Umzug. Übrig blieben die Alten, die zu verwirrt waren, um etwas erzählen zu können, und das Personal, das zu viel Angst hatte.

Rebecca Kayhs ist die Jüngste der Pflegerinnen, 22 Jahre alt, „unser Küken“, sagen die anderen, wenn sie von ihr sprechen. Als sie anfängt, in Haus Charlotte zu arbeiten, sieht sie die alten Leute zwischen den Blumen im Wintergarten sitzen. „Wie idyllisch“, denkt sie und freut sich, dass nur elf Leute zu versorgen sind, das bedeutet genügend Zeit, um sie zu waschen und zu füttern, im Advent liest sie ihnen Geschichten vor. Aber allmählich, berichtet Rebecca Kayhs, habe sie Dinge gesehen, die nicht zur Idylle passten: In den Kaffee kommt nur ein Löffel Kaffeepulver, wenn mehr darin ist, schüttet ihre Chefin das Pulver wieder heraus. Sie fragt sich, warum die Essensportionen für einige der Bewohner so klein sind, während die Heimleitung Lachs isst. Eine Alzheimer-Patientin wird in ihr Zimmer eingeschlossen, die Pflegerinnen sollen die Tür geschlossen halten. „Sie stört nur“, heißt es, weil sie hinter den Schwestern herläuft und unruhig ist. Einmal findet Rebecca Kayhs sie morgens im eigenen Kot und Urin, die Glühbirne ist aus der Lampe geschraubt, und die Rollos sind heruntergelassen. „Ihr Gesicht war total verängstigt“, sagt Rebecca Kayhs, aber sie geht nicht zu Frau H., um sie zu fragen, was da im Nachtdienst geschehen sei. „Ich hatte Angst, wovor auch immer“, meint sie. Sie rechtfertigt sich nicht, sie sagt nicht, dass sie ja am Ende doch den Anstoß gegeben habe, das Heim zu schließen.

Rebecca Kayhs weiß nicht, ob Frau H. böswillig oder überfordert ist, es spielt eigentlich keine Rolle. Eine alte Frau beklagt sich bei den Pflegerinnen, dass sie von der Oberin an den Haaren gezogen worden sei. An den nächsten drei Tagen hätten sie sie morgens mit glasigen Augen gefunden, sagt Rebecca Kayhs, wie mit Medikamenten ruhig gestellt. Irgendwann beginnen die Pflegerinnen darüber zu sprechen, was sie sehen. Rebecca Kayhs und ihre Kollegin Angelika Dauss rufen bei der Seniorenpartei Graue Panther an, die nur rät, es müssten Beweise gesammelt werden. Die Pflegerinnen sagen sich, so könne es nicht weitergehen. Aber es geht weiter, monatelang, bis Dezember 2002, als Rebecca Kayhs, die sanfte Rebecca Kayhs, mit Karin H. streitet.

Vor Gericht sagt auch eine ehemalige Putzfrau des Heims aus. Sie trägt Jeans und T-Shirt. Sie schaut immer geradeaus, vorbei an Frau H. „Waren Sie eingeschüchtert?“, fragt der Richter. „Ja“, antwortet die Putzfrau. Sie sagt, dass die Heimleiterin einer alten Frau in die Kniekehle getreten habe, die Frau ging mühsam, weil sie einmal an Kinderlähmung litt. Der Richter möchte wissen, wie der Tritt aussah, deshalb nimmt sie eine Wachtmeisterin am Arm und stößt ihr mit dem Knie in die Kniekehle.

In der Verhandlungspause sitzen Günter K. und Karin H. allein an einem Tisch in der Cafeteria, abseits von den anderen Besuchern. Eigentlich will Herr K. nichts zu seinem Fall sagen, aber dann tut er es unentwegt, er findet, dass man einen Stoß mit dem Knie nicht als Tritt bezeichnen kann. „Es gab ständig Dispute mit dem Personal“, sagt Karin H., dazu ihr Fortbildungskurs und der Nachtdienst, da sei sie überfordert gewesen. Natürlich habe es Klingeln für die Bewohner gegeben, das Personal selbst habe eine der Bewohnerinnen eingeschlossen, um Ruhe zu haben. Die Privatzahler bekamen Saft und Bier auf Wunsch, sagt Frau H., die Kassenzahler nicht. „Ich zahl das nicht aus eigener Kasse.“ Sie hat eine sehr vage Ähnlichkeit mit der alten Maria Schell, aber als sie vom Geld redet, ist das Damenhafte verschwunden, nur ganz kurz, aber lang genug, um zu verstehen, warum die Putzfrau eingeschüchtert war. „Sie haben sich alle zusammengetan“, sagt Günter K. „Sie“, das ist das Personal. Herr K. und Frau H. erzählen, dass eine der Pflegerinnen Drogen genommen habe und die andere das Heim habe übernehmen wollen.

Diejenige, die angeblich das Heim übernehmen wollte, ist die 42 Jahre alte Angelika Dauss. Auf ihrer Wohnzimmerschrankwand blühen künstliche Rosen, eine lange Ranke, und man könnte darin einen Hinweis auf sie selbst sehen, auf eine mädchenhafte Romantik. Aber bei ihr kommt eine praktische Nüchternheit dazu, wie man sie wohl als eines von acht Geschwistern erwirbt oder spätestens als 18-jährige Mutter. Vielleicht glaubt man ihr gerade aufgrund dieser Nüchternheit. „Ja“, sagt Angelika Dauss zu dem Vorwurf von Frau H. und ihrem Lebensgefährten, sie klingt nicht überrascht, die Leiterin habe ihr einmal angeboten, das Haus in einigen Jahren zu übernehmen. „Mal gucken“, habe sie gesagt, „wenn es dann noch einen so guten Ruf hat.“ Angelika Dauss ist eine kleine Frau, nicht einmal 1,60 Meter groß, viel kleiner als der massige Günter K., aber trotzdem hat sie sich oft vor ihm aufgebaut. „Wir haben oft Nase an Nase gestanden“, sagt sie, sie habe widersprochen, aber angezeigt hat sie die Heimleiter nicht. Sie brauche Beweise oder Zeugen, habe die Heimaufsicht gesagt. Doch sie hatte keine. Ab einem gewissen Punkt kann man nur noch spekulieren, warum nichts passierte, ob es Angst um die Arbeit ist oder Trägheit, aber es bleibt Spekulation und so undeutlich wie die Kratzer hinter dem Ohr der alten Frau, die Frau H. geschlagen haben soll.

Als sie im August 1999 angefangen hat, in Haus Charlotte zu arbeiten, hat ihre Vorgängerin sie gewarnt. Angelika Dauss hat das Gespräch auf Band aufgenommen, sie ist ein praktisch denkender Mensch, mit Rechten kennt sie sich aus, mit denen psychisch Kranker, aber auch mit ihren eigenen. „Halt Augen und Ohren auf“, hat ihre Vorgängerin gesagt, und bald sieht sie, was auch die anderen gesehen haben: eine Frau, die so lange auf der Toilette gesessen hat, dass ihr Po blau gefroren ist. Sie sieht, wie Frau H. die verkrümmten Hände einer alten Frau auf den Tisch schlägt, und schreit: „Verpiss dich, lass mir die Leute in Ruhe!“ Angelika Dauss schreit wieder, wie sie damals wohl geschrien hat, und sie wird laut, als sie erzählt, wie sie die anderen angeschrien habe, warum sie nicht Anzeige erstatteten. „Was habt ihr denn zu verlieren?“ Sie müssen damals uneinig gewesen sein, wer mehr zu verlieren hätte, wer es sich leisten könnte, die Arbeit zu verlieren, mit oder ohne Kinder, mit oder ohne Eigentumswohnung. Heute sind sie uneinig, wer Mut hatte und wer nur mitgelaufen ist. Anglika Dauss sagt, dass eine der Pflegerinnen, die sich jetzt als mutig darstelle, die feigste gewesen sei, und sie sagt, dass sie den anderen mit Klage wegen unterlassener Hilfeleistung gedroht habe. Aber dann ist sie doch nicht zur Polizei gegangen.

Viele Angehörige interessierten sich kaum für die Missstände, die Pflegerinnen hatten Angst

Angelika Dauss erzählt eine weitere Geschichte von Frau H.: Die habe einer verwirrten alten Frau kochend heißes Essen gegeben und gelacht, als die sich den Mund verbrannte: „Das hat sie davon, dass sie so schlingt.“ Aber es ist wohl einfach eine Geschichte zu viel, denn Angelika Dauss fängt an zu weinen, und dass sie erst weint, als sie von dem Lachen erzählt, ist der zweite Grund, ihr zu glauben.

Es ist schließlich Rebecca Kayhs, die Jüngste, die die Initiative übernimmt und die vormundschaftliche Betreuerin einer Patientin alarmiert. Sie ist an diesem Tag mit Frau H. aneinander geraten, es muss ein heftiger Streit gewesen sein, aber sie erinnert sich nicht, worum es ging. Sie sitzt lange vor dem Telefon, dann wählt sie die Nummer. Alles andere geht schnell: Dde vormundschaftliche Betreuerin informiert einen Anwalt und die Heimaufsicht, die das Haus nach zwei Besuchen schließt. Es sind angekündigte Besuche, aber die Schwestern zeigen verstohlen auf Medikamente, die unsachgemäß aufbewahrt werden, auf abgestellte Klingeln und die Kratzer hinterm Ohr einer Patientin.

„Anscheinend auf einen Schlag hin waren dort zwei winzige Kratzer, nichts Eindeutiges“, sagt die Amtsärztin vor Gericht. Sie spricht leise, als fühle sie sich unbehaglich. „Keine eindeutigen Pflegedefizite bei den Bewohnern“, hat sie nach dem Besuch notiert. Sie hat die Leute nach ihrem Befinden gefragt. Niemand habe sich beklagt. Eine Frau habe unaufgefordert erzählt, wie gut die Pflege sei. „Waren Sie allein?“, fragt die Staatsanwältin. „Nein, Frau H. war dabei.“ Eine Frau im Publikum stöhnt leise.

Beim Prozess kann nur eine Bewohnerin aussagen, die anderen sind verwirrt oder verstorben. Martha Knorr, 88 Jahre alt, lebt jetzt in einem anderen Heim. „Ich bin von der Hölle in den Himmel gekommen“, sagt sie. „Der Spruch wurde ihr so eingetrichtert“, meint Herr K.