Das Glück der zweiten Reihe

Zum Welthandelsgipfel in Cancún machte sich auch eine kleine und zerstrittene Schar studentischer Globalisierungskritiker auf. Die Delegationder kampferprobten Mega-Universität von Mexiko-Stadt bekämpfte sich selbst – bis Südkoreaner mit Schlips und Kragen die Führung übernahmen

„Manche sind auch hier, weil man sorecht günstig nachCancún kommt“

aus Cancún LENNART LABERENZ

Tomás Flores’ (24) Analyse ist eindeutig. „Die Unterordnung der Regierungen unter die Interessen der transnationalen Unternehmen“, schreibt der mexikanische Student, „erfolgt immer schneller und präziser.“ So hat Flores sich und seine Kommilitonen auf Cancún vorbereitet. In der Tourismusmetropole der Karibik wollten die Gobalisierungskritiker nicht baden gehen. Sie organisierten die Proteste gegen den Gipfel der Welthandelsorganisation (WTO) in dem mexikanischen Badeort. Flores, der dem „Colectivo Ernesto Guevara“ angehört, steuerte einen Text mit dem Titel „Bist du politisch?“ bei.

Flores’ beinahe poetische Wahrnehmung, dass sich wegen des Diktats der Ökonomie „das weltweite Panorama weiter auf intolerable Weise verschlechtert“, ist keine Seltenheit. Schon gar nicht an der Universidad Nacional Autonoma de México (Unam), die mit 400.000 eingeschriebenen StudentInnen die zweitgrößte Universität der Welt ist. An der Uni in Mexiko-Stadt gibt es unzählige politische Gruppierungen, die allerdings nach dem gewaltsamen Ende des über neun Monate währenden Streiks an der Unam (1999–2000) kaum mehr zu einem gemeinsamen Diskurs fähig sind.

Unter den Gruppen, obwohl nur durch Nuancen traditionslinker Analysen getrennt, herrschen Neid und Missgunst. Schon in den letzten Wochen vor der wichtigen Handelskonferenz waren die organisatorischen Treffen immer mehr zu langatmigen Redefestspielen verkommen. Und so machten sich nicht 400.000, sondern nur vierhundert Studierende aus der fernen Kapitale Mexiko-Stadt zum Protest in Cancún auf – und spalteten sich in zwei Lager.

Eine Minderheit bevorzugte ein Camp in der Mitte der Stadt, trotz katastrophaler hygienischer Verhältnisse. Hier trafen sich wesentlich Punks, Anarchisten und internationale Kräfte des schwarzen Blocks. Zehn Taximinuten entfernt residierte der Rest in einem vergleichsweise gemütlichen Baseball-Stadion. Als im Verlauf einer abendlichen Demonstration nahe des Lagers im Zentrum die Scheiben eines „Pizza Huts“ zu Bruch gingen, mündete die Trennung beinahe in gegenseitiger Gewalt. Eine aufgebrachte Menge der Revoluzzer wollte ausrücken, um die KommilitonInnen Reformisten aus dem Stadion zu verprügeln.

„Wir müssen hier völlig unterschiedliche Verständnisse von Demokratie feststellen“, beschreibt Ivan Galinde Ortegón (22) den Gegensatz. „Im Stadion kampierten Gruppen, die auf pazifistischem Weg protestieren wollten, die an Versammlungen und Konsens glauben“, sagt der Politikstudent der Unam. „In der Stadt blieben die, die eher direkte Aktionen im Sinn haben. Die wollten sich einfach so artikulieren, wie sie grade Lust haben.“ Galinde hatte während der Protestwoche nichts dagegen, mit Freunden einen Nachmittag am Strand zu verbringen. „Manche sind auch hier, weil man so recht günstig nach Cancún kommt“, berichtet die Physikstudentin Verónica López Delgado (22).

Zum ersten studentischen Protestmarsch versammelten sich 350 Personen. Sie trafen sich in brütender Mittagshitze vor dem Sicherheitszaun am Kilometer null, der den Übergang zwischen der Stadt Cancún und der weitläufigen Hotelzone markierte. „In allen Bereichen können wir die wachsende Ungerechtigkeit und die Benachteiligung gerade der Staaten der Dritten Welt feststellen“, meint Verónica, die sich bei der Gruppe Desobedientes civiles (ziviler Ungehorsame) auf die Welthandelskonferenz vorbereitet hat. Verónica ist mit ihrem Bruder und ihrem Vater angereist. „In den Zeitungen“, so sagt er, „wird kaum über die wahren Ursprünge und Motivationen der Politik berichtet, und da wir sowieso eine Fernsehnation sind, dringt kaum etwas ins Bewusstsein der Leute.“

Ein Großteil der studentischen Aktionen hatte demnach die Aufklärung der örtlichen Bevölkerung zum Ziel. Bei Hausbesuchen erklärten die Studis, was es mit der WTO auf sich hat – und warum dagegen Protest nötig sei. Die Studenten hätten andere Möglichkeiten, an Informationen zu kommen, sieht Oscar Chavez Castillo (24) die Studenten in der Pflicht zur Aufklärung – die offenbar auch in den eigenen Reihen gut täte. Während kleine Gruppen die Filialen des US-Riesen Wal-Mart blockieren wollten, kauften die KommilitonInnen dort fleißig Bier und massenweise Thunfisch in Dosen.

Als zentraler Wendepunkt entpuppte sich der öffentliche Selbstmord des ehemaligen südkoreanischen Bauernpräsidenten Lee Kyung Hae. Die daraus erwachsene Autorität der disziplinierten Delegation aus Südkorea beschied den Studierenden das Glück der zweiten Reihe: Fortan reagierten die Studierenden wesentlich auf die präzisen Vorstellungen und Anforderungen der Koreaner. So ergab sich bei der Abschlussdemonstration dieses Bild: Der schwarze Block formierte den internen Sicherheitsdienst – während Südkoreaner in ordentlich gebügelten Hemden und sauber geputzten Schuhen den Sicherheitszaun zur Hotelzone niederrissen.

Tatsächlich aber hatte die so schlagartig herbeigeführte Autorität der Südkoreaner die mexikanischen Bauernorganisationen, Gewerkschaften und Parteien trotz aller pathetischen Solidaritätsbekundungen in ihrer Eitelkeit getroffen. Rasch hatten Funktionäre erkannt, dass ihr politisches Pulver wertlos geworden war. Und so zogen schon am Tag nach dem Selbstmord die ersten der nicht annähernd den Vorankündigungen entsprechenden Kontingente wieder aus Cancún ab. Die daraus resultierende Unsicherheit über eventuelle Gegenschläge der Polizei parierten die Südkoreaner mit selbstbewusster Weisheit: als der Zaun zerstört war und einige ungeduldige Heißsporne ihren jugendlichen Zorn an der hochgerüsteten Polizei austoben wollten, befahlen sie etwas Neues: hinsetzen und Blumen verteilen. 2.000 DemonstrantInnen folgten dem überraschenden Manöver weitgehend ohne Murren.

Und während in ihrer Mitte die koreanischen Bauern eine ovale Formation zum stillen Gebet bildeten, achteten amerikanische Punks und mexikanische Che-Guevara-Romantiker gleichermaßen stolz darauf, dass der überraschten Polizei kein Haar gekrümmt wurde.