„Spielt der Hrubesch noch?“

Als Fußball-Entwicklungshelfer in Afghanistan sorgt sich Holger Obermann weniger um Taktik und Tore als um Milchpulver und Mineralwasser. Ein Gespräch über Sport zwischen Trümmern und Minen

Interview TOBIAS SCHÄCHTER

taz: Was treibt einen dazu, sein privilegiertes Leben gegen das eines Fußballentwicklungshelfers einzutauschen?

Holger Obermann: Als die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Fußballrechte abgeben mussten, wollte ich etwas anderes machen. Ich hatte genug von der Eitelkeit, die man durch Fernsehauftritte automatisch bekommt. Im Ausland, wo ich buchstäblich im Dreck gearbeitet habe, bemerkte ich, dass sich mein Charakter verändert. Das Fernsehen, die Bundesliga, das war plötzlich alles weit weg.

Was erreichen Sie mit Ihrer jetzigen Arbeit?

In diesen Ländern gibt es immer etwas aufzubauen und der Schwerpunkt ist immer die Jugendarbeit. Nach all diesen schrecklichen Kriegserfahrungen brauchen die Leute Labsal für ihre Seele. Der Fußball kann helfen, diese furchtbaren Erlebnisse zu verarbeiten und Lebensfreude, Selbstwertgefühl und Achtung vor dem anderen zu vermitteln. Das sind Dinge, die wichtig sind, um eine intakte Gesellschaft aufzubauen.

Wie realistisch ist das in Afghanistan? Dort tobt seit Generationen Krieg, immer noch ist die Lage vollkommen instabil.

Klar, die Situation ist verheerend. Afghanistan liegt in Schutt und Asche. Kabul ist ein Trümmerhaufen. Es existiert praktisch keine Infrastruktur, keine ausreichende medizinische Versorgung, es gibt kaum Ausbildungsplätze und Lehrer, ganz zu schweigen vom Ernährungsproblem. Das Wasser ist völlig verbleit. Durch die Landminen gibt es viele behinderte Kinder und viele Waisen. Das Land ist einer der größten Drogenumschlagplätze der Welt. Und natürlich gibt es fast keine Sportplätze.

Nur das Olympic-Stadium in Kabul.

Es ist das einzige Stadion und diente unter den Taliban, die keinen Sport duldeten, als Hinrichtungsstätte. Die Menschen wurden an den Torpfosten aufgehängt und zu Tode gefoltert. Heute machen wir da unsere Torschussübungen, genau unter diesem Gebälk. Das ist schon makaber.

Haben Sie Angst?

Ich lebe seit vielen Jahren mit der Angst. Mein Partner Ali Asksar Lali und ich haben einen Bodyguard, der gleichzeitig unser Fahrer ist. Vor kurzem war ich in einem chinesischen Restaurant. Plötzlich fuhren über 20 US-Soldaten mit fünf oder sechs Fahrzeugen vor und traten breitschultrig herein. Ich bin sofort gegangen. Ich hatte zwar keine Angst, aber ich lasse mein Essen dann stehen. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.

Afghanistan ist ein Land verfeindeter Volksstämme. Wie gehen Sie damit um?

Da steht mir Ali Askar Lali zur Seite. Er ist der Franz Beckenbauer des Landes. Ali ist 1980 unter abenteuerlichen Bedingungen nach Deutschland geflohen. Jetzt öffnet er mir hier Tür und Tor.

Ein Beispiel?

Zwei Übungsleiter, die wir ausgebildet haben, sollten nach Hennef reisen, um an einer Weiterbildungsmaßnahme teilzunehmen. Nun stellen die Paschtunen die größte Bevölkerungsgruppe. Wir haben zwei Trainer ausgewählt, rein nach der Qualifikation. Beides Paschtunen. Es war unmöglich, nur diese zwei nach Deutschland zu schicken. Wir mussten noch einen aus einer anderen ethnischen Gruppe finden. Das zeigt welche Kämpfe hinter den Kulissen toben, welche Spannungen in solchen Gesellschaften herrschen. In Nepal, einem Kastensystem, habe ich das auch festgestellt.

Was wissen die Leute denn vom Fußball? Kennen die Jugendlichen Ronaldo?

Die Menschen wissen sehr wenig vom Fußball. Fernseher gibt es so gut wie gar nicht und auch nur einen lokalen Sender, der zwei Stunden am Tag sendet. Das Endspiel der letzten WM haben die Leute im Stadion gesehen. Das war eine UN-Aktion. Da haben die Jugendlichen Kahn und Klose vage wahrgenommen. Die meisten kennen Fußball noch von früher, zählen deutsche Nationalspieler auf, die sogar mir entfallen sind. In Afghanistan gab es seit 15 Jahren keine Übertragung eines Fußballspiels. Die Leute stellen Fragen wie: Spielt der Hrubesch noch?

Horst Hrubesch?

Ja, aber dennoch: Hier herrscht eine unglaubliche Begeisterung für den Sport. Es gibt über 90 Straßenmannschaften, die in den Trümmern Kabuls kicken. Neulich spielte im Olympic-Stadium zum ersten Mal eine U-19 gegen eine englische Armee-Auswahl. 15.000 Menschen waren im Stadion. Unsere Jungs haben die Engländer fast vom Platz gefegt und der Erfolg wurde gefeiert, als hätte man eine Weltmeisterschaft gewonnen. Dass die Menschen nach all dem Leid endlich mal wieder ein positives Ereignis feiern durften, war wichtig für ihr Selbstwertgefühl.

Die Situation ist verheerend, Ihr Budget von 150.000 Euro allerdings geradezu lächerlich.

Hinzu kommen 250.000 Dollar aus dem Goal-Programm der Fifa. Damit wird hier ein Gebäude neben dem Stadion gebaut, das einmal als Verbandsbüro dienen soll. Aber man muss angesichts immer geringer werdender Sportentwicklungshilfe versuchen, alternative Wege einzuschlagen. Deswegen habe ich das Football-and-Food-Programm angestoßen. Ich suche Sponsoren, große Firmen, die sich langfristig engagieren wollen. Ob das allerdings in Afghanistan funktioniert, wage ich zu bezweifeln. Noch fehlt es an allem. Wir brauchen zum Beispiel dringend Milchpulver und Mineralwasser.

Gibt es denn schon Strukturen im Fußball?

Es gibt zwei Divisionen mit insgesamt 34 Vereinen im Großraum Kabul. Der nächste Schritt ist jetzt der Neuaufbau der Nationalmannschaft.

Wie sieht es außerhalb Kabuls aus?

Bisher spielt sich der Fußball nur in Kabul ab. Es ist einfach zu unsicher in den Provinzen. Wir werden aber versuchen, die sechs besten Talente aus den Städten Herat, Kandahar, und Massar-i Scharif auszusuchen. Die Leute dort schreiben uns ständig, wir sollen kommen und uns ihre Strukturen anschauen. Die Besten auszusuchen und dann von ihren Stämmen und Familien nach Kabul zu lotsen wird eine große Herausforderung werden. Ich denke, wenn wir den Jungnationalspielern Arbeitsplätze anbieten, besteht eine Chance.