Eine Zukunft für den Ostrock

Der Verein „Sechzig-Vierzig“ träumt von einem Museum für den Sound des Ostens. Mit der aktuellen Ostalgiewelle haben die Mitglieder nichts am Hut, ihnen geht es um kritische Auseinandersetzung

von GUNNAR LEUE

Die DDR feiert derzeit im Fernsehen fröhliche Urständ, und wenn es nach dem Willen etlicher Plattenbosse in diesem Land geht, bald auch im Radio. Nicht dass die Ostrock-Veteranen Puhdys oder Karat die dortigen Playlists bald anführen dürften. Aber eine kleine Quote für heimische Rock- und Popmusik, wie sie in der DDR existierte, fände mancher Musikmanager schon nicht schlecht. Dort war im Radio und bei Tanzveranstaltungen ein Musik-Mix von 60 Prozent Titeln aus der DDR und dem sozialistischen Ausland und 40 Prozent westlichem Liedgut vorgeschrieben. Nicht zuletzt aus Gründen des Devisensparens (Tantiemen!), wie Peter Thinius meint.

Er ist Chef eines in Friedrichshain ansässigen Vereins, dessen Name „Sechzig-Vierzig“ an die „Tanzmusikanordnung“ von 1958 erinnert. Der will die DDR-Alltagskultur im Bereich der Rock- und Popmusik umfassend dokumentieren. „Aber ohne jegliche Ostalgie“, sagt Thinius, der vor 30 Jahren selbst als Schallplattenunterhalter, also DJ, durch sozialistische Lande zog.

In der Wohnung des 50-Jährigen lagert der Grundstock für ein künftiges Ostrock-Museum: Plakate, Eintrittskarten, alte Plattenspieler sowie Ausgaben der seinerzeit begehrten DDR-Musikzeitschrift Melodie und Rhythmus. Unter 4.000 LPs – CDs gab es in der DDR noch nicht – sind auch Exemplare von Bands wie City oder Silly, die es sowohl in der Amiga-Ausführung als auch in der Version der westdeutschen Plattenfirma gibt. Der Unterschied liegt allein in der Verpackung.

Auch Klaus Schnabel-Koeplin, ein alter DJ-Kumpel von Thinius, legt Wert darauf, keinem Nostalgieverein anzugehören. „Wir wollen an die Musik genauso erinnern wie an die Probleme, von der staatlichen Zensurpraxis bis zu den Findigkeiten, mit denen die Bands sie umging.“ Mit der DDR-Retrowelle habe das nichts zu tun. Zwar zählt der Verein bisher nur 12 Mitglieder, ein geschlossener Ostzirkel ist er jedoch nicht. Selbst eine Amerikanerin forscht dem verklungenen Ostsound nach. Die in Westberlin aufgewachsene 34-jährige Natalie Gravenor hatte vor der Wende auf Rias eine Sendung über DDR-Punk gehört und daraufhin die Ostband Le Attentat für ihre Schülerzeitung interviewt. (...)„Die Puhdys oder Karat interessierten mich nicht, aber die einzigartigen Entstehungsbedingungen für Ostrock.“

Um den möglichst vielseitig zu beleuchten, sammeln die Vereinsmitglieder nicht nur Schallplatten oder alte Demobänder, die ihnen vom Staat unverdächtigte Gruppen wie Engerling, Mona Lise oder Lift überließen. Sie archivieren auch Texte, Fotos und Demokassetten von Punkbands wie eben Le Attentat sowie offizielle Belege von Auftrittsverboten, etwa für Stephan Krawczyk. Auch die Privilegien vieler Bands, die als Reisekader sogar zu Konzerten internationaler Stars in den Westen fahren durften, werden nicht ausgeblendet.

„Wir wollen zudem den Bogen zur Gegenwart spannen“, erklärt Schnabel-Koeplin die Vision der Ostrock-Bewahrer. „Zum Beispiel sollen junge Bands bei uns Auftrittsmöglichkeiten kriegen.“ Auch ein Internetportal zur Information und kritischen Auseinandersetzung mit der Ostmusik kann er sich vorstellen.

Wie angebracht etwas Aufklärung ist, zeigte eine Umfrage, die ein Vereinsmitglied in diesem Jahr an zehn Gymnasien in Berlin und im brandenburgischen Spremberg durchführte. Die Frage: Was wissen Schüler über die DDR-Musikszene?, brachte bei den Ostlern folgende Ergebnisse: Udo Lindenberg und Nena sind Ossis, und die NDW kommt aus der DDR! Gymnasiasten in Spandau dagegen wussten nicht nur gar nichts, sie wollten auch nichts erfahren. Dabei könnten die Vereinsleute durchaus auch mit lustigen Anekdoten dienen. Zum Beispiel wie man die Quote zugleich bediente und ignorierte: Als DJ hatte Peter Thinius einen einfachen Trick zur 60/40-Planerfüllung: Er ließ einfach in der Pause die Osttitel laufen.