Zweierlei Maß für Nigerias Tote

In Nigeria entrann die Steinigungskandidatin Amina Lawal der Hinrichtung. Zugleich starb unter mysteriösen Umständen Oppositionspolitiker Chuba Okadigbo. Der erste Fall bewegt allein die Weltöffentlichkeit. Der zweite Fall bewegt allein Nigeria

aus Lagos HAKEEM JIMO

Nicht die ausgesetzte Steinigung von Amina Lawal beschäftigt in diesen Tagen Nigeria, sondern der mysteriöse Tod des bekannten Politikers Chuba Okadigbo. Während der Freispruch der Todeskandidatin Amina Lawal vor einem Scharia-Gericht in Katsina am vergangenen Donnerstag nur auf den hinteren Seiten der Zeitungen stattfand, war die Nachricht von Okadigbos Tod während einer Demonstration am gleichen Tag in Kano weitaus spektakulärer. Okadigbo war erster Senatspräsident in der vor vier Jahren neu gegründeten Demokratie und bei der letzten Präsidentschaftswahl vom April Vizepräsidentschaftskandidat der Opposition. Gerüchten zufolge ist er an den Folgen eines gezielten Tränengaseinsatzes der Polizei gestorben.

Okadigbo galt als einer der mächtigsten und charismatischsten Politiker des südostnigerianischen Igbo-Volkes. Igbos hofften auf den 61-Jährigen als ihren Präsidentschaftskandidaten bei den nächsten Wahlen, wenn sie endlich auch einmal Anspruch auf das höchste Staatsamt erheben wollen. Bei den letzten Wahlen trat Okadigbo auf dem Ticket des früheren Militärherrschers Muhammadu Buhari aus dem Norden Nigerias an. Die zumeist christlichen Igbos lehnen die Scharia-Ambitionen im Norden, für die Buhari steht, ungestüm ab. Aber diese Differenz ist offenbar nicht so wichtig in Nigerias verwickelter Politik.

Scharia-Urteile in Nigeria erregen die Menschenrechtler der ganzen Welt. Aber in Nigeria werden sie vor allem unter politischen Gesichtspunkten gesehen, und die Scharia macht nur einen unter vielen Punkten im Koordinatensystem der Macht- und Verteilungsfragen aus. Allgemein wird vermutet, dass die mit dem Ende der Militärdiktatur entmachteten Eliten des islamischen Nordens mit der Scharia die Zentralregierung unter Druck setzen wollen, um wieder mehr Staatsgelder zu bekommen. Abgesehen davon sehen viele einfache und arme Nordnigerianer die Scharia tatsächlich als letzten Hort von Ordnung in einem Chaos aus Armut und Perspektivlosigkeit.

So hielt sich die Berichterstattung über den Fall Lawal in der vom Süden dominierten Presse Nigerias in engen Grenzen. Verfassungsrechtler und Islamgelehrte stritten sich in Interviews über Interpretationen des islamischen Rechts und der nigerianischen Verfassung. Ab und zu erscheinen Berichte über neue Scharia-Urteile. Ein Mann ist in Nigeria bereits aufgrund eines Scharia-Urteils gehängt worden; insgesamt sind in Nigerias Scharia-Staaten 21 Urteile auf Handamputation wegen Diebstahls gesprochen worden, und zwei wurden bereits vollstreckt.

Dass ein Scharia-Gericht unter Hinweis auf Verfahrensfehler das Todesurteil gegen Amina Lawal kippte, wird zudem eher als Bestätigung des Scharia-Systems gesehen. „Geklärt ist mit dem Freispruch für Amina Lawal am Gesamtproblem Scharia noch gar nichts“, sagt die Frauenrechtlerin Chibogu Obinwa von „Baobab für die Menschenrechte von Frauen“ – eine von zwei offiziellen Unterstützerorganisationen von Amina Lawal. „Wir hatten uns mehr auf eine Bestätigung des Todesurteils vorbereitet. Dann hätten wir den Fall endlich vor ein reguläres Gericht gebracht. Aber unser Ziel war es, die Ungerechtigkeit gegen Frauen innerhalb des islamischen Gesetzessystems zu beseitigen.“

Auch der Rechtsanwalt der Bürgerrechtsorganisation „Projekt Verfassungsrechte“, Akin Kumolu-Johnson, sieht den Kampf gegen die Scharia noch lange nicht gewonnen. „Was ist, wenn die Prozessfehler nicht mehr passieren?“, fragt er. Insofern sehen Nigerias Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen ihre Arbeit erst am Anfang.

Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten dieser Gruppen ihren Ursprung in den großen Städten des ohnehin weltoffeneren Südens haben. Natürlich haben die meisten auch Außenstellen – nicht zuletzt, um gegenüber ausländischen Geldgebern, ohne die kaum eine dieser Gruppen funktionsfähig wäre, landesweite Präsenz beweisen zu können. Aber auf Wertewandel im Norden oder allgemein in ländlichen Regionen wartet das moderne Nigeria noch – während Tradition und Gewohnheitsrecht immer mehr Gewicht bekommen.

Schon jetzt habe die Ausbreitung der Scharia in Nigerias Nordhälfte die Gesellschaft des Landes insgesamt stark verändert, sagt Obinwa. „Nigerianerinnen fühlen sich längst nicht so frei wie früher. Viele von uns können innerhalb des Landes nicht mehr so reisen – also auch nicht frei Geschäfte machen. Alles ist sehr defensiv geworden.“