Das Gespenst des Machtverlusts

Die SPD-Linke murrt. Mit der Erinnerung an den Sturz von SPD-Kanzler Helmut Schmidt Anfang Oktober 1982 versucht Gerhard Schröder sie zu zähmen

aus Berlin ANDREAS SPANNBAUER

Olaf Scholz vergleicht sich gern mit einem ICE der vierten Generation: schnell, innovativ, modern. Kritiker sehen den SPD-Generalsekretär derzeit eher als Lokomotive, von der sich Waggon für Waggon abkoppelt – bevor der Zug gegen die Wand rast.

Als Generalsekretär bekommt Scholz an diesem Samstag auf der Herbsttagung der Parteilinken im Willy-Brandt-Haus die aufgestaute Wut der Parteibasis zu spüren. Scholz will nach der Bayern-Wahl und der notdürftig über die Bühne gebrachten Abstimmung über die Gesundheitsreform um Verständnis für die Reformen zu werben.

Verständnis ist das Letzte, was die Parteilinke für den von der SPD-Spitze eingeschlagenen Weg übrig hat. Schon zum Auftakt wirft die Bundestagsabgeordnete Andrea Nahles der Regierung vor, sie sei „konzeptlos, instinktlos und perspektivlos“. Vergeblich bittet Scholz seine Genossen, ein Gefühl von „Stolz“ für die Entscheidungen der rot-grünen Regierung zu entwickeln: „Wichtig ist, dass wir etwas tun, was für unser Land notwendig ist.“ Auch die SPD könne „nicht per Parteitagsbeschluss die Wirtschaftskrise in Deutschland verschieben“.

Für seine Rede bekommt Scholz müdes Klatschen. Es ist eine der freundlicheren Reaktionen an diesem Vormittag. Viele treibt nackte Angst um die Zukunft ihrer Partei um. 30.000 Mitglieder hat die SPD nach Angaben von Nahles bislang dieses Jahr verloren. Nur noch jeder Fünfte bringe nach einer Umfrage der ARD den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ mit der SPD in Verbindung.

An der Basis komme der Kurs der Regierung nicht mehr an. Es brauche jetzt „mehr als Durchhalteparolen und Rücktrittsdrohungen“, nämlich eine Korrektur des gegenwärtigen Kurses. Als Generalsekretär müsse Scholz diese „Stimme der Partei“ in der Regierung repräsentieren. Nils Annen, Chef der Jungsozialisten, prophezeit Verluste bei den nächsten Wahlen. Weil „nur die Gürtel der kleinen Leute enger geschnallt“ worden seien, werde bei kommenden Wahlkämpfen „niemand mehr für die SPD auf der Straße stehen“. Ulrich Maurer, Mitglied des Bundesvorstandes, hält die „Beschädigung des Gerechtigkeitsgefühls“ für „tödlich“ für die SPD. Andere sprechen schlicht von einer „Sauerei“.

Olaf Scholz hört gelassen zu, abwechselnd die Arme vor dem Körper verschränkt oder den Kopf mit der Hand abgestützt. Als er auf die Vorwürfe antwortet, verlässt ein Teilnehmer fluchend den Saal. Die Bitte des Generalsekretärs, „die Handlungskompetenz für richtiges Regieren nicht anderen zu überlassen“ und sich an die eigene Beschlusslage zu halten, quittieren die Parteilinken erneut mit mageremAnstandsapplaus.

An der SPD-Spitze scheint man die Existenzangst der Pareibasis inzwischen ernst zu nehmen. Zwar beschwor Bundeskanzler Gerhard Schröder am Samstag bei einem Kongress der IG Bergbau, Chemie, Energie noch einmal das Schreckgespenst des Machtverlustes, um für Ordnung in den eigenen Reihen zu sorgen: „Guckt mal genau hin, wie das 1982 gelaufen ist, als sich die sozialliberale Koalition in einem Erosionsprozess auflöste“, sagte Schröder in Hannover. Und: „Guckt noch genauer hin, wie lange es gedauert hat, bis man wieder dran war.“ Gleichzeitig aber räumte Schröder auch Fehler bei den Reformen ein. „Dass im Moment das Maß der Ergebnisse etwas unterentwickelt ist, das will ich nicht bestreiten, weil es sich auch gar nicht bestreiten ließe“, gesteht der Kanzler.

In wichtigen Fragen zeichnet sich bereits erste leise Kurskorrekturen ab. So spricht sich Schröder in Hannover für den Erhalt des Flächentarifvertrags aus – ein Bekenntnis, dass von den Parteilinken bisher vermisst wurde. Auch bei der Rente wendet sich der Kanzler gegen eine Erhöhung des Eintrittsalters auf über 65 Jahre. Er will sich künftig auf die Vermeidung von Frühverrentung konzentrieren. Schröder pfiff damit seine Sozialministerin Ulla Schmidt zurück, die eine solche, von der Rürup-Kommission vorgeschlagene Erhöhung mehrfach als einen „gangbaren Weg“ bezeichnet hatte. Generalsekretär Scholz deutet in Berlin ein Einlenken bei der Erbschaftssteuer und der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen an.

Der Linienkampf geht schon heute weiter. Das SPD-Präsidium beschäftigt sich am Vormittag mit dem Leitantrag für den Parteitag im November in Bochum. Die Parteilinke legt auf dem Parteitag einen eigenen Antrag vor. Olaf Scholz weist schon mal darauf hin, dass der von ihm formulierte Antrag lediglich „als Diskussionsangebot“ zu verstehen sei – bereitet der ICE „Olaf Scholz“ eine Sicherheitsbremsung vor?