Allein unter Senioren

In Oldenburg wurde ein 47-Jähriger Mann, der an Multipler Sklerose leidet, ins Altersheim „abgeschoben“. Sein Platz in einer betreuten WG sei zu teuer, argumentiert die Stadt. Ein zumutbarer Umzug oder ein Affront gegen die Menschenwürde?

aus OldenburgChristoph Kutzer

„Wenn dieser Fall Schule macht, dann können Behinderte bald endlich hinter Mauern verschwinden. Dann blockieren sie nicht mehr mit ihren Rollstühlen die Eingänge von Einkaufszentren.“ Mit bitterem Lachen zitiert die Leiterin der Oldenburger Betroffenengruppe Mutipler Sklerose (MS)-Kranker die Polemik einer Selbsthilfegruppe aus dem Weser-Ems-Bereich, die sie vor kurzem in ihrem Briefkasten gefunden hat. Die fraglos überspitzte Formulierung bezieht sich auf Vorfälle, die sich Ende August in der Stadt zugetragen haben: Ein 47-Jähriger Mann mit Multipler Sklerose musste aus Kostengründen seine WG verlassen, in der er von der örtlichen SELAM-Lebenshilfe gGmbH für Menschen mit Behinderungen betreut wurde. Jetzt lebt er in einem Altersheim.

„Abschiebung“ nennen das MS-Kranke, die nun fürchten, ihnen könne ähnliches widerfahren. Jürgen Krogmann, Pressesprecher der Stadt, spricht hingegen von einem „zumutbaren Umzug“. Er habe Verständnis dafür, dass „das Umfeld des Betroffenen unzufrieden“ sei, betont aber auch, dass es nicht länger möglich gewesen sei, die anfallenden Kosten von 12.000 Euro im Monat zu tragen: „Natürlich versuchen wir, solange wie möglich eine ambulante Pflege zu ermöglichen. Der finanzielle Aufwand wäre aufgrund der besonderen Umstände aber unverhältnismäßig geworden.“

Die Grundversorgung im Seniorenzentrum kostet nun gerade mal ein Sechstel des betreuten Wohnens. Doch diese Ersparnis ist mit einem Verzicht auf adäquate Versorgung erkauft. „Eine sinnvolle stationäre Versorgung, wie sie etwa in einer an die Bremer Heimstiftung angegliederten Wohn- und Pflegegruppe gewährleistet wird, kostet an die 5.000 Euro im Monat“, so Martin Krämer, Fachbereichsleiter bei der SELAM. „Leider gibt es zu wenig solcher Pflegeplätze. Die Wartezeiten betragen bis zu 3 Jahre.“

Mit der reinen Versorgung jedenfalls, frei nach dem Motto „satt und sauber“, ist es bei MS-Kranken nicht getan. Die Unberechenbarkeit der Krankheit macht eine individuelle Betreuung unerlässlich, auch psychische Begleitung. Die Gemütslage nämlich hat oft einen maßgeblichen Anteil am Krankheitsverlauf. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie sich ein Mann, der noch keine 50 Jahre alt ist, allein unter pflegebedürftigen Senioren fühlt.

„Es gibt auch eine andere Art von Heimunterbringung“, erzählt die Leiterin der Oldenburger Betroffen-Gruppe. „In zwei anderen Fällen mussten ebenfalls jüngere Menschen mit MS in Heime umziehen. Das wurde allerdings von den Eltern veranlasst, und die Heime sind kleiner. Dort hat man mehr Zeit für die Kranken.“ Sie weiß das aus eigener Anschauung. Bis vor kurzem hat die Trägerin des Bundsverdienstkreuzes regelmäßig bei den Betroffenen vorbeigeschaut. Jetzt aber hat die Stadt der Rollstuhlfahrerin die Fahrgutscheine gestrichen, die diese Besuche möglich gemacht hatten.

Angesichts solcher Fakten klingt es wenig überzeugend, wenn Jürgen Krogmann betont, die jüngsten Ereignisse seien von der Haushaltslage unabhängig. Immer wieder beschwört er die Rechtmäßigkeit des Vorgehens, verweist darauf, dass der Umzug ins Altersheim in zwei Instanzen gerichtlich bestätigt worden sei. Allein: Der Eindruck, dass die Würde des Menschen antastbar wird, sobald sie mit Kosten verbunden ist, bleibt.