Verkehrte Welt in Buenos Aires

Mit der Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Buenos Aires rückt auch die Rolle der Kultur am Río de la Plata in den Blickpunkt. Nach der Krise gibt es dort nicht weniger, sondern sogar mehr Kultur

AUS BUENOS AIRES INGO MALCHER

Das Teatro Cine 25 de Mayo im Stadtteil Villa Urquiza stand 15 Jahre lang leer. Die Fassade ist verfallen, Sitze und Leinwand gab es längst keine mehr und schon gar keine Platzanweiser mit Taschenlampe. Vergangenen Monat kaufte die Stadtregierung von Buenos Aires das verwaiste Kino und renoviert es seither. In Kürze wird Villa Urquiza wieder ein eigenes Stadtteilkino haben, finanziert aus öffentlichen Geldern. Gezeigt werden dann argentinische Filmzyklen und Klassiker der Kinogeschichte.

Kein Einzelfall in Buenos Aires. Berlins Partnerstadt nimmt die kulturelle Grundversorgung ihrer Bewohner ernst – gerade in Zeiten der Krise. Es klingt paradox: Gerade in Zeiten knapper Kassen ist das Kulturangebot so vielfältig wie schon lange nicht mehr. Und die Stadtregierung bezuschusst, anstatt zu streichen. Freitagabends stehen vor den Kino- und Theaterkassen lange Schlangen, wer nicht vorbestellt hat, hat Pech.

Kulturkonsum in der Krise? Nach dem turbulenten Jahreswechsel 2001/2002, in dessen Folge Argentinien den Staatsbankrott anmelden musste, melden die Theater ausverkaufte Vorstellungen, der Kunstevent „Offenes Studio“ musste in diesem Jahr sogar um eine Woche verlängert werden. Verkehrte Welt? Nicht wirklich. In Buenos Aires hat man in den vergangenen Jahrzehnten genug Krisenerfahrung gesammelt und gelernt, dass es immer irgendwie weitergeht. Und aus den Trümmern des Zusammenbruchs entstanden neue kulturelle und politische Formen.

Die Kulturförderung der Stadt ist dabei eine Konstante. Das ambitionierte Ziel lautet „Demokratisierung der Kultur“. Regelmäßig gibt das legendäre Opernhaus Teatro Colón Vorführungen zum symbolischen Preis von 2 Peso, kaum mehr als 50 Cent. Das Colón mit seinen goldenen Stuckdecken, den kunstvollen Fresken und der marmorvertäfelten Eingangshalle ist die exklusivste Adresse der Stadt. Bei Vorführungen riecht es nach Mottenpulver und Chanel No. 5. Kritiker sagen dem Haus die beste Akustik der Welt nach, mit über 2.000 Sitzplätzen ist es eines der größten Operntheater der Erde. Auf Gigantomanie wurde schon immer Wert gelegt, zur Einweihung im Jahre 1908 gab es „Aida“ mit lebenden Elefanten auf der Bühne.

Diese goldenen Zeiten sind vorbei, aber die Finanzierung kultureller Einrichtungen ist unumstritten. Neben dem Colón und zahlreichen kleinen Kulturzentren leistet sich die Stadt noch den Theaterkomplex San Martin mit über tausend Angestellten. Tango-Festival, Programmkino, Lesungen, Schauspiel, alles unter einem Dach, direkt an der Avenida Correientes.

Trotzdem kommt in der 13-Millionen-Stadt Buenos Aires die Kultur auch in die Viertel. Städtische Kulturzentren laden Sänger aus dem Colón ein, ein wanderndes Veranstaltungszelt bringt Theatergruppen und Rockbands bis in die abgelegensten Viertel. Die Schauspieler arbeiten dort meist kostenlos. Nicht nur Hochkultur wird finanziert. In unzähligen Kleintheatern bringen Theatergruppen Stücke zur Aufführung, die Subventionen dafür stehen allen offen, die sie beantragen. Über einen eigenen Fernsehsender, der alle 15 Minuten Veranstaltungsprogramme abspielt, hält die Stadtregierung die Bewohner über das Geschehen auf dem Laufenden.

Dort wird auch auf das Festival Berlin–Buenos Aires hingewiesen. Doch die Partnerschaft war selbst manchen Mitarbeitern im Kultursenat bis vor wenigen Wochen noch unbekannt. „Berlin? Ach so“, hieß es dort. Berlin ist für Buenos Aires ebenso weit weg wie London, Paris oder Madrid. Dabei gibt es doch viele Gemeinsamkeiten. Krise und leere Kassen, kulturelles Zentrum des Landes in der Hoch- wie Subkultur, politisch umkämpftes Terrain. Verständnislos schaut man in Buenos Aires, wenn man hört, dass Berlin in Zeiten der Krise sich kulturelle Hungerkuren verordnet. In Buenos Aires würde dies einen Proteststurm entfachen, wie ihn Berlin trotz Hartz IV noch nicht erlebt hat.

Aus dieser Krise sind in Buenos Aires neue Dinge entstanden. Eine neue Protestkultur, die Stadt ist fast täglich Kulisse für Demonstrationen von Gruppierungen aus allen Richtungen. Aber das Gesicht der Stadt hat sich dennoch verändert. Müllsammler, die jede Nacht mit dem Zug zurück in die Vorstadt-Slums fahren, durchwühlen allabendlich die Abfälle der Wohlstandsviertel.

Ohne Sorge lebt es sich in Palermo Viejo, das sich neuerdings Palermo Hollywood nennt. Das einst verschlafene Viertel hat sich neu erfunden und sieht aus wie das Filmset einer Telenovela. Diese Transformation ist direkt der Krise geschuldet: Als 2001 die Bankkonten der Argentinier eingefroren waren, hat so mancher sein Guthaben gegen eine Bar getauscht. Nicht Boom trotz, sondern wegen der Krise.