Am kunstseidenen Faden

Monatelang demonstrierten im brandenburgischen Premnitz Mitarbeiter gegen eine Werksschließung. Die Politik versprach Hilfe. Passiert ist wenig

AUS PREMNITZ JAN STERNBERG

84 Tage lang haben die 218 Beschäftigten das Premnitzer Viskose-Werk besetzt – 84 Wintertage standen sie ab dem 2. Dezember 2002 in klirrender Kälte an der Feuertonne vor dem Werkstor. Als im Februar 2003 alles vorbei war, hat Sabine Kindler vor den versammelten Journalisten hemmungslos geweint. Die Firma in der brandenburgischen Kleinstadt – 65 Kilometer westlich von Berlin – wurde abgewickelt, die Spinnmaschinen hat der Insolvenzverwalter nach Indien verkauft. Brandenburgs Wirtschaftsminister Ulrich Junghanns (CDU) hatte den Besetzern 150 Plätze in einer Strukturanpassungsmaßnahme versprochen. Geschaffen wurden nur 80, jeweils auf ein halbes Jahr befristet. Die letzte Förderung ist vor kurzem ausgelaufen.

Sabine Kindler, die 56-jährige Frontfrau der Blockade, hat einen neuen Job gefunden: Fünf Monate lang betreut sie nun Spätaussiedler in einem öden Plattenbau im havelländischen Dorf Pessin. Wieder nur befristet, wieder nur eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Kindler nutzt die Zeit, um ihre Gedanken von den Premnitzer Ereignissen wegzubekommen. „Macht mir Spaß hier, ist wat ganz anderet“, sagt die zähe kleine Frau. Und will dann lieber nicht, dass ihre alten Mit-Blockierer von der neuen Stelle erfahren. „Mit denen kann ich gar nicht drüber reden. Da gibt es zu viele, die noch zu Hause sitzen. Ich hätte es lieber gesehen, wir hätten alle Arbeit.“

7.000 Menschen arbeiteten bis zur Wende im Chemiefaserkombinat Friedrich Engels in Premnitz – dem größten der DDR. Auf dem riesigen Gelände gab es danach eine Pleite nach der anderen. Im Juli vor zwei Jahren traf es auch die unter dem Namen „Prefil“ agierende Viskose-Produktion. Die „Prefilaner“ waren arbeitslos, doch statt nach Hause gingen sie damals auf die Straße. „Wir haben für den Standort gekämpft. Wir haben eine Chance gesehen“, sagt Sabine Kindler heute. Es war die Verzweiflung von erfahrenen Fachkräften, die plötzlich keiner mehr haben wollte.

Die Bushaltestelle vor dem Werkstor heißt seit ein paar Monaten „Tonne 4“. Die Stadt hat den Besetzern und ihrer Feuertonne ein Denkmal gesetzt. Dahinter verfällt das Werk. Nur eine Halle ist frisch gestrichen. Hier produzieren seit November 15 Leute ein Viskose-Zwischenprodukt. Die Garne werden im Ausland zugekauft und auf drei Maschinen aus der Konkursmasse der alten Prefil auf so genannte Zettelbäume aufgespult. In der düsteren Halle hängt ein bisschen Hoffnung am kunstseidenen Faden.

„Wir wollen uns weiter in Premnitz engagieren“, sagt Michael Weyermann, Geschäftsführer des traditionsreichen Familienbetriebs „Weyermann und Söhne“ in Viersen am Niederrhein. Man will die Webereivorbereitung ausbauen, in zwei Jahren soll eine Weberei aufgebaut werden, vielleicht kommt noch eine Färberei hinzu. Die ersten Förderanträge sind gestellt. „Die Personalkosten sind deutlich niedriger als im Westen, die Leute haben das nötige Know-how“, lobt der Chef in Viersen.

Mike Stampehl ist Wirtschaftsförderer und Öffentlichkeitsarbeiter der 10.000-Einwohner-Stadt in einer Person. Er redet, als würde er Gewerbegebiete am Münchner Flughafen verkaufen. Spricht von einem „außergewöhnlich gut aufgestellten Standort“ und „hochmoderner Nischenproduktion“. 1.306 Premnitzer sind arbeitslos. Die Quote liegt für das westliche Havelland bei mehr als 26 Prozent. Stampehl verweist auf Michael Weyermann, auf die Blücher AG, die mit 42 Leuten Webstoffe mit Filterfasern beschichten will, sieht die Polyester-Produktion im Aufwind und kämpft für den seit Jahren geforderten Autobahnanschluss. Selbst das Kraftwerk des alten Kombinats, Herzstück der Misere, mutiert bei Stampehl zum Hoffnungsträger: Hier könnte bald schon Biogas verfeuert werden.

„Nirgends entstehen Arbeitsplätze für Frauen“, klagt hingegen Sabine Kindler. „Wir waren ein Frauenbetrieb, die neuen Firmen stellen fast nur Männer ein.“ Mike Stampehl klagt über die Jungen, die wegziehen, und die Alten, die zu lange an eine Wiederauferstehung des alten Kombinats geglaubt haben.

Kindler glaubt, dass viele ihrer ehemaligen Kollegen zu den Montagsdemonstrationen gehen. „Jetzt kommt der rapide Fall. Es geht nichts aufwärts, immer nur abwärts.“ Mit jedem neuen Job verdiene sie weniger als vorher. „Es ist doch schizophren: Ich bin 56 und freue mich, dass ich so alt bin und nicht mehr lange bis zur Rente durchhalten muss.“

Von SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck erwartet sie nichts mehr, von seinem Vorgänger Manfred Stolpe als Aufbau-Ost-Minister im Bundeskabinett ist sie „zutiefst enttäuscht“, dass er sich bei Hartz IV nicht gerührt hat. Die Geschichte von Sabine Kindler ist beispielhaft für das verspielte Vertrauen der Brandenburger SPD. Da wirft die Ex-Betriebsratschefin ihre Vorbehalte gegenüber den Postsozialisten über Bord. „Wenn die anderen Parteien Angst haben vor der PDS, finde ich das okay. Hartz IV war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“

In den Dörfern zwischen Premnitz und Pessin hat allerdings eine andere Partei die Laternenmasten mit ihren Plakaten besetzt: die rechtsextreme DVU. „Vor denen habe ich Angst“, sagt Sabine Kindler.