Der Brian Ferry von Münster

Alphaville waren zum letzten Mal Mitte der Achtzigerjahre erfolgreich und machten trotzdem immer weiter. Jetzt feierten sie im Tipi ihren zwanzigsten Geburtstag

Man erinnere sich noch einmal an das Jahr 1984. Während sich die Welt vor George Orwells schrecklichen Prophezeiungen fürchtet und die Bundesbürger missmutig der Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses entgegensehen, leisten im beschaulichen Münster drei schlaksige Männer ihren Beitrag zum florierenden Synthiepopgeschäft und schenken den endzeitlich gestimmten Massen mit „Big In Japan“ ein schönes Lied. Dank Zeilen wie „When you’re big in Japan tonight / Big in Japan, be tight / Big in Japan, ooh the eastern sea’s so blue“, weiß zwar niemand so genau, worum es in dem Titel – der angeblich von der Heroinsucht handeln soll – eigentlich geht, doch weil der Sänger Marian Gold die rätselhaften Worte so ansprechend singt, schafft es das Lied in zwanzig Ländern in die Charts. Die nachfolgenden Singles „Sounds Like A Melody“ und „Forever Young“ sind sogar noch erfolgreicher, doch mit „The Jet Set“ beginnt 1985 das Interesse zu schwinden.

Aber Marian Gold macht weiter. Ob nun die Mitstreiter wechseln, das Plattengeschäft sich widerspenstig zeigt oder die Öffentlichkeit anderen Musikerzeugnissen den Vorzug gibt – Alphaville halten durch. Am Sonntagabend haben sie deshalb ihr zwanzigjähriges Bestehen gefeiert. Den angemessen festlichen Rahmen bot dazu das Tipi, das beliebte Zelt am Bundeskanzleramt, das mit erwartungsfroh gestimmten Fans, die aus aller Herren Länder angereist waren, aus den Nähten platzte. Schon bevor die Band die Bühne betrat, gab es Standing Ovations, was vor allem diejenigen wundern mag, die von der Nachricht überrascht sind, dass es Alphaville überhaupt noch gibt. Doch weil Aphaville es geschafft haben, über ihre Homepage eine intensive Fanbetreuung aufzubauen, können sie es sich auch erlauben, in regelmäßigen Abständen Studio-CDs, Live-CDs, Remix-CDs oder auch CD-Boxen zu veröffentlichen, die übers Netz direkt den Endverbraucher erreichen.

Es versteht sich daher von selbst, dass man als Nicht-Fan kaum einen Alphaville-Titel kennt. Man kann auch nicht wissen, dass Marian Gold, der sich über die Jahre vom jungen Schlaks in einen reiferen Herren mit Gebrauchtwagenhändlerbauch verwandelt hat, seine Brian-Ferry-Verehrung derart zur Perfektion bringen konnte, dass er das Brianferryhafte mittlerweile besser beherrscht als Brian Ferry selbst. Dazu gehört unter anderem der fliegende Wechsel zwischen den Tonarten, der es ihm erlaubt, vom sonoren Gruftbrummen bruchlos ins rumpelstilzchenartige Quengeln überzugehen. Herrlich funktioniert auch der Bewegungsapparat. Gerade so, als würde die Musik in seinem Rückenmark geheimnisvoll verzögerte Impulse auslösen, neigt Marian Gold dazu, die Lieder mit seinen Armen und Beinen stets fünf Zehntelsekunden neben dem Takt gestisch zu untermalen. Man könnte auch sagen, er kann nicht tanzen. Doch nur wenige beherrschen die hohe Kunst des Nicht-Tanzens so eindrucksvoll wie er.

Und so singt er sich zunächst mit Begleitung von Piano, Akustikgitarre und den Streichern des Berliner Salonorchesters durchs Repertoire, bis Alphaville später als voll funktionstüchtige Rockband in Erscheinung treten. Das Publikum hält es zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr auf den Stühlen. Ein völlig unbekannter Hit folgt auf den nächsten, und jedes Mal, wenn Gold eines der zur Erinnerung notwenigen Textblätter nicht mehr braucht, zerknüllt er sie mit forschem Griff und wirft sie nonchalant in die Menge. Gegen Ende gibt es dann „Big In Japan“ und „Forever Young“, weshalb es im Tipi zu einem herzerweichenden Teelichterschwenken kommt. HARALD PETERS