Identifizierung nach 60 Jahren

86 Juden wurden 1943 im Elsass für die Skelettsammlung eines Nazi-Mediziners ermordet. Ein Tübinger Journalist fand Herkunft und Namen der Opfer heraus

Roland Knebusch: „Wir wollen diesen Menschen ihre Identität zurückgeben“

STRASSBURG taz ■ Fast auf den Tag genau 60 Jahre nach ihrer Ermordung sind endlich alle 86 Opfer identifiziert, die für die so genannten Skelettsammlung des Nazi-Mediziners August Hirt 1943 vergast wurden. Die 29 Frauen und 57 Männer waren von Auschwitz nach Struthof im Elsass gebracht und dort umgebracht worden (Hintergrundbericht in der taz vom 27. 6. 03). Hirt war Professor der Anatomie an der Reichsuniversität Straßburg, die die Nationalsozialisten nach der Besetzung des Elsass einrichteten. Seine ursprüngliche pseudowissenschaftliche Argumentation für die „Sammlung“: Nach der Ausrottung der Juden sollte der jüdische Körperbau für Forschungszwecke erhalten bleiben.

Der Anatomiemitarbeiter Henri Henripierre hatte 1943 heimlich eine Liste mit den eintätowierten Nummern der Leichen angefertigt. Das war dem Tübinger Journalisten und Historiker Hans-Joachim Lang, der in den 80er-Jahren zu Hirt geforscht hatte, bekannt. Da die französischen Archive noch 50 Jahre geschlossen sind, konnte Lang seine Recherchen zur Identität der Opfer von Hirts Vorhaben erst beginnen, nachdem dem Washingtoner Holocaust-Museum ein Mikrofilm dieser Liste zugespielt wurde. Mit den Nummern lassen sich Rückschlüsse auf Transportverzeichnisse und sonstigen Nazi-Dokumente ziehen.

Langs Ergebnissen zufolge waren 48 jüdische Opfer aus Thessaloniki, 24 aus Berlin, sieben Frauen waren aus Malines in Belgien, fünf Männer kamen aus den polnischen Orten Oranczyce, Bialystok und Neudorf, je zwei Männer aus Westerbork in den Niederlanden und aus Drancy bei Paris. Einer war aus dem norwegischen Bergen.

Durch Recherchen in den jeweiligen Ländern konnte Lang nun herausfinden, wer die Getöteten waren. Auf der Konferenz „Der Schrecken der Nazimedizin“, die in Straßburg stattfand, wurden die Namen der 86 Menschen vorgelesen. Stehend würdigten die 400 Anwesenden die späte Verneigung vor den Toten.

„Die Nazis haben aus diesen Menschen Nummern gemacht, wir wollen ihnen ihre Identität wieder zurückgeben“, sagt der Psychotherapeut Roland Knebusch, einer der Organisatoren der Konferenz. In seinem Vortrag appelliert er an die Verantwortung der Mediziner. Ihre Bereitschaft zu inhumanem Handeln habe entscheidend zum Holocaust beigetragen. Den Auftrag der Medizin, den Menschen zu heilen, hätten sie verraten.

Wie komplex die Aufarbeitung der Naziverbrechen ist, machte der überraschende Auftritt von Hubert Henripierre deutlich – dem Sohn des Anatomiemitarbeiters, der die in den französischen Archiven weggeschlossene Liste der eintätowierten Nummern aufgeschrieben hatte. Der 50-Jährige, der in der Nähe von Straßburg wohnt, hatte im Radio von der Konferenz gehört und war gekommen, weil er die gesuchten Zahlenreihen bei sich zu Hause hatte. Dazu auch die ganzen Aufzeichnungen seines Vaters. Alle Facetten des Schreckens, auch des eigenen, sollen in dem Manuskript festgehalten sein, sagt der medienscheue Sohn. Kein Verlag hatte die Erinnerungen bisher veröffentlichen wollen. Als sein Vater starb, vermachte er seinen Körper der Anatomie, weil er den gleichen Weg gehen wollte wie die Menschen, die er nicht hatte retten können.

WALTRAUD SCHWAB