Integration auf schwäbische Art

Das Lern- und Kulturzentrum „Haus 49“ ist nur eines von vielen Projekten, in denen die Chancengleichheit von Immigranten und Deutschen in Stuttgart gefördert wird. Eine halbe Million Euro wurde 2003 allein in die Sprachförderung investiert

Auch in Stuttgart ist die Arbeitslosigkeit unter Ausländern doppelt so hoch

von JEANNETTE GODDAR

Zugegeben, das Foyer ist lichtdurchflutet, die Räume sind geschmackvoll eingerichtet, die zahllosen Fotos verleihen den Wänden einen gewissen Charme. Anders als sonst überfällt einen in den Unterrichtsräumen nicht gleich ein ausgeprägter Fluchtinstinkt. Und auch die Gebetsräume machen den Eindruck, als würde man sich hier als gläubige Muslima gerne zurückziehen.

Ansonsten aber hat man das Gefühl, alles auch woanders schon einmal gesehen zu haben: Es gibt Räume für Nachhilfe und Hausaufgaben, ein Esszimmer, Gruppenräume für Fußballvereine und Gesangsgruppen, eine Jobberatung, Spielzimmer und einen Kicker.

Das Besondere am Haus 49, einer kirchlich getragenen Einrichtung im Stuttgarter Stadtteil Nordbahnhof ist etwas, was man auf den ersten Blick gar nicht sieht: Das Haus steht nicht nur türkischen Mädchen, arabischen Jungen, kroatischen Müttern oder deutschen Großvätern zur Verfügung, sondern allen, die in dem Stadtteil mit einem Migrantenanteil von 60 Prozent leben.

In den knapp 20 Räumen des funktionalen Neubaus wird so ziemlich alles angeboten, was sonst fast immer munter über die Stadt verteilt ist. Während Kleinste, die sonst nicht in die Kita gehen, sich in deutscher Sprache üben, lernen ihre Mütter unabhängig von ihrer Herkunft im Nachbarraum lesen und schreiben. Den 70 bis 80 Schülern, die täglich ins Haus kommen, wird Deutschunterricht, Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe angeboten – und zwar von echten Lehrern, die dafür mit ein paar Deputatsstunden von der Schule abgeordnet werden.

Ab der achten Klasse wird mit den Jugendlichen, von denen die meisten zur Hauptschule gehen, systematisch an Berufsfindung, Bewerbungen und Eignungstests gearbeitet. „Trau dich und melde dich bei mir an“ steht an der Tür des dafür zuständigen Mitarbeiters. Schüler, die zu Hause nichts bekommen, werden hier mittags verköstigt; mit ihnen wird in Urlaub gefahren, in die Türkei, aber auch anderswohin. Die Eltern der Jugendlichen kommen ins Haus, um zu tanzen, zu singen, zu reden oder zu essen. Im Advent laden Christen Muslime zum Tee ein, zum Zuckerfest revanchieren sich die Muslime mit Gebäck, und es wird überzeugend versichert, die Resonanz sei riesig. Das Haus 49 ist also ein Haus für alle, das alles zulässt, außer vor irgendeiner Ethnie, Kultur oder Religion Halt zu machen.

Damit aber steht das Haus in der Mittnachtstraße, das dessen Leiter Gökay Sofuoglu als „Biotop“ bezeichnet, stellvertretend für die gesamte Stadt Stuttgart. Ausgerechnet in der seit 1945 CDU-regierten Hauptstadt Baden- Württembergs ist es vor zwei Jahren gelungen, mit den Stimmen aller Fraktionen ein „Bündnis für Integration“ ins Leben zu rufen. Das wiederum, so viel hat sich seither herausgestellt, ist nicht nur ein schönes Wort, sondern Synonym für etwas in der Bundesrepublik immer noch ausgesprochen Seltenes: für ein integrationspolitisches Gesamtkonzept.

Dieses sorgt nicht nur, aber auch dafür, dass der Wust von nebeneinander existierenden Sprachkursen entwirrt und in vernetzter Form neu auf- und vor allem ausgebaut wurde. In Kindergärten und Schulen wurde der Sprachunterricht massiv ausgeweitet; parallel dazu wurden für Erwachsene, vor allem für Frauen, 150-stündige Integrationskurse nach niederländischem Vorbild eingerichtet. Anders als vom Zuwanderungsgesetz vorgesehen werden zu den Stuttgarter Kursen auch Aussiedler zugelassen, auch ehemalige Gastarbeiter, die bereits seit 30 Jahren hier leben und immer noch keinen Überweisungsauftrag ausfüllen können.

Die kompakte Förderung der Zugewanderten ist nicht zuletzt eines: teuer. In diesem Jahr investiert die Stadt fast eine halbe Million Euro alleine in Sprachförderung; 280.000 Euro hat man zusätzlich bei der Landesstiftung erbettelt, über weitere hunderttausend schießen verschiedene Vereine zu.

Und dennoch hält Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, der 1996 nach über 20 Jahren Manfred Rommel ablöste, das Geld für bestens investiert: „Die Stadt Stuttgart war immer eine Einwandererstadt“, sagt er, „dazu bekennen wir uns auch in der Politik.“ Man müsse, so Schuster weiter, den Einwanderern zur „Teilhabe an der Gesellschaft“ verhelfen. Schuster: „Integrationspolitik ist vor allem Politik zur Herstellung von Chancengerechtigkeit.“

Das Bündnis für Integration wird nicht nur von der Stadt, sondern auch von den Gewerkschaften, Kirchen, Migrantenverbänden und der Landesregierung getragen. Koordiniert wird es von der „Stabsabteilung Integrationspolitik“ im Stuttgarter Rathaus unter Leitung des Integrationsbeauftragten Gari Pavcovic. Außer mit der Vernetzung der Angebote ist Pavcovic’ Büro vor allem damit beschäftigt, Integration als Querschnittsaufgabe zu institutionalisieren, die auch die Mehrheitsgesellschaft etwas angeht.

Im Klartext heißt das: Auch die Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, Bibliotheksmitarbeiter, Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter und Sozialamtsmitarbeiter müssen interkulturell geschult werden – egal ob in ihrer Jobbeschreibung nun „Zielgruppe Migranten“ geschrieben steht oder nicht.

Dazu gehört auch, dass offensiv für den Einzug von Migranten in die oft als unerträglich deutsch empfundene Verwaltung geworben wird. Wenn Integration Partizipation heißt, so das Argument, dann muss die logische Folge sein, dass in absehbarer Zeit auch jeder vierte Stuttgarter Lehrer und jeder vierte Polizist aus einer Migrantenfamilie stammt.

Geht die Überzeugungsarbeit unter Deutschen immer ohne Reibungen vonstatten? „Nein“, sagt Gari Pavcovic, „eine beidseitige Integration, wie wir sie verstehen, ist ein langsamer Prozess in vielen kleinen Schritten. Aber wir sind überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein.“ Zu diesem richtigen Weg gehört außer der Förderung des Dialogs zwischen Deutschen und Nichtdeutschen auch der Versuch zu verhindern, dass Migranten sich allzu sehr in religiösen und kulturellen Nischen organisieren. „Jeder hat ein Recht auf eigene Kultur und Identität“, sagt Pavcovic, „von uns aber werden separierende Veranstaltungen nicht unterstützt.“

Statistisch hat die Stadt am Neckar allen Grund, sich um einen konstruktiven Dialog mit ihren Einwanderern zu bemühen: Mit einer Ausländerquote von 22,6 Prozent liegt Stuttgart hinter Frankfurt am Main im bundesweiten Vergleich der Städte auf Platz zwei. In den Kindergärten ist bereits jetzt jedes zweite Kind nichtdeutscher Herkunft – und im Jahr 2030, so schätzt man, werden die (ehemaligen) Einwanderer 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Dann aber droht man, es mit einer in weiten Teilen unterprivilegierten Stadtgesellschaft zu tun zu haben. Denn auch im von Armut und Arbeitslosigkeit wenig geplagten Ländle ist es bisher nicht gelungen, den Eingewanderten aus 177 Nationen zu Gleichberechtigung zu verhelfen: Auch in Stuttgart ist die Arbeitslosigkeit unter Ausländern doppelt so hoch wie unter Deutschen; auch hier schafft jeder zweite jugendliche Ausländer nur den Hauptschulabschluss. „In Zukunft ist jeder dritte Berufsanfänger nicht deutscher Herkunft“, sagt Pavcovic, „wir können uns gar nicht leisten, die nicht mit allen erdenklichen Mitteln zu qualifizieren.“ Dass eine derart konzertierte Aktion im konservativen Stuttgart eher möglich gewesen sei als anderswo, erklärt er mit „schwäbischem Pragmatismus“. Ehrlicherweise fügt er aber auch hinzu, dass Stuttgart eine reiche Stadt ist: „Es lässt sich ja nicht leugnen, dass wir mehr Geld haben als Frankfurt oder Berlin.“

Im Haus 49, das 1996 ebenfalls mit städtischen Geldern völlig neu und ganz nach Vorstellung der Betreiber erbaut wurde, ist man unterdessen schon wieder einen Schritt weiter. Das Wort „Integration“ könne er eigentlich gar nicht leiden, sagt Gökay Sofuogglu, der vor 23 Jahren nach Stuttgart kam und eher zufällig Sozialarbeiter wurde, weil in dem Kurs gerade ein Platz frei war. „Wir hören das hier nicht gerne“, sagt der gebürtige Türke, „integrieren klingt doch leider immer noch vor allem nach domestizieren.“