„Soziale Säuberung“ – der Staat mordet mit

UNO-Berichterstatterin recherchiert in Brasilien außergerichtliche Hinrichtungen durch Polizei und Todesschwadronen

PORTO ALEGRE taz ■ Drei Wochen lang will sich Asma Jahangir Zeit nehmen, um in Brasilien die meist ungesühnten Mordfälle mit staatlicher Beteiligung unter die Lupe zu nehmen. Der prominenten Anwältin aus Pakistan, die als UNO-Berichterstatterin für außergerichtliche Hinrichtungen in acht Bundesstaaten reisen wird, haben Menschenrechtsgruppen bereits zwei Dossiers überreicht, die das Ausmaß des Problems ahnen lassen: So registrierte die Nationale Menschenrechtsbewegung in den Jahren 2000 und 2001 über 1.600 Morde, die auf das Konto von Polizeieinheiten oder Todesschwadronen gehen sollen.

Im Report „Außergerichtliche Hinrichtungen“ stellt das Zentrum für Globale Gerechtigkeit (Justiça Global) detailliert 349 Fälle aus den letzten 7 Jahren dar. Die Aufsehen erregenden Massaker wie das an den Landlosen in Eldorado dos Carajás (1996) seien nur die spektakulärsten Beispiele für ein staatliches „System der Auslöschung und Unterdrückung“, das täglich im ganzen Land praktiziert werde, folgern die Menschenrechtler.

Besonders in den Bundesstaaten Espiritu Santo, Rio de Janeiro, São Paulo und Brasília sind die Grenzen zwischen Staatsorganen und Todesschwadronen fließend. Die meisten Opfer sind schwarze Jugendliche aus den Armenvierteln der großen Städte, sagte Menschenrechts-Staatssekretär Nilmário Miranda, als er die Abgesandte der UNO begrüßte. In der Regel gehen die Täter straffrei aus, wegen „fehlenden Willens zur Aufklärung“ und „polizeilicher Ermittlungen schlechtester Qualität“, so Justiça Global. Dies wiederum begünstige die Fortsetzung der so genannten sozialen Säuberung.

Zu den Ausnahmen gehört die Verurteilung eines Polizisten am vergangenen Samstag: Wegen seiner Beteiligung an einem Massaker in Rio soll er eine lebenslange Haftstrafe antreten.

Den Zuständen in den Gefängnissen und der Gewalt auf dem Lande sind in dem deprimierenden Bericht von Justiça Global eigene Kapitel gewidmet. Demnach gehören 98 Prozent der Häftlinge zu den „absolut Armen“, die meisten sitzen wegen Diebstahl oder Raubüberfällen ein. Für die Autoren symbolisieren die brasilianischen Haftanstalten die „vollständige Kriminalisierung der Armut“. Jüngstes Fallbeispiel ist das eines chinesischen Händlers, der Ende August in einem Gefängnis von Rio zu Tode geprügelt wurde – immerhin sitzen sechs Verdächtige in Untersuchungshaft.

90 Prozent der 331 Todesopfer, die seit 1997 bei Landkonflikten gezählt wurden, hatten laut Justiça Global Todesdrohungen erhalten. Doch in keinem einzigen Fall seien staatliche Behörden daraufhin aktiv geworden. 2003 werden wieder mehr Landarbeiter und Ureinwohner ermordet als in den Vorjahren – bis Ende Juli waren es allein 19 Indianer.

GERHARD DILGER