berliner szenen Die alte Frau (2)

Träum nicht, trau dich

Die alte Frau ist weg. Es nicht klar, wohin sie verschwunden ist. Die Frau hatte ein Problem mit dem Alkohol. Jeden Tag konnte man sie mit einer Flasche Schnaps vor dem gekachelten Plattenbau sitzen sehen. Der Verkehr rauschte derweil wichtigtuerisch vorbei. Die Frau guckte aber nur in die Luft und trank.

Es ist keine gute Gegend für Trinker. Die Straße ist laut. Die Immobilienmakler hoffen auf eine Aufwertung des Viertels. Ein paar Galerien haben eröffnet und wieder geschlossen. In der neuen Perspektive sind Trinkerinnen, die auf der Straße sitzen, jedenfalls nicht vorgesehen.

Andere Frauen ihres Alters treffen sich einmal die Woche im Seniorentreff auf der anderen Straßenseite. Sie sitzen bei der Weight-Watchers-Gruppe zusammen. Sie reden und sie wiegen sich. Der exzessive Alkoholkonsum, den die alte Frau draußen auf der Straße zelebrierte, wirkte demgegenüber geradezu wie ein heiteres Fanal gegen die Verzichtsmentalität unserer modernen Gesellschaft.

Keiner weiß, wohin die Frau gegangen ist. Einer ihrer gelegentlichen Trinkerkollegen stand neulich vor der Plus-Filliale. Er schimpfte. Es ist nicht bekannt, von wem er gesprochen hat. Vielleicht von der Frau. Immer wieder brüllte er: „Denkt an mich und küsst ’nen anderen!“

An ihrem Platz vor dem Plattenbau hat die alte Frau aber etwas zurückgelassen: zwei ziemlich zerlesene Bücher. Sie liegen nass und zerfleddert im Hauseingang, aber sie weisen auf verborgene Neigungen bei der Frau hin, auf Interessen jenseits vom Alkohol. Die Bücher heißen: „Der westliche Weg. Ein praktischer Führer in die alten Geheimlehren“ und „Träum nicht – Trau Dich! Von der sexuellen Phantasie zur Wirklichkeit“.

KIRSTEN KÜPPERS