Berlin liegt am Taksim

Beziehungen zwischen Berlin und Istanbul haben Geschichte, weit über den regen kulturellen Austausch der Städte hinaus. Warum es Zeit wird, nach Istanbul zu fahren. Zwischen dem Berliner Ostbahnhof und Istanbul-Zentrum liegen 2.194 Kilometer

von HANS F. BELLSTEDT

„Niemand kann nahe des Bosporus leben und täglich auf diesen schauen, ohne sich in ihn zu verlieben … Istanbul ist vielleicht nicht die großartigste Stadt der Welt. Aber mit Sicherheit die am schönsten gelegene“, schreibt Stephan Kinzer, der ab 1996 für die New York Times aus der Stadt berichtete, in seinem höchst lesenswerten Türkei-Bericht „Crescent and Star.“

Wer dieser Tage nach Istanbul fährt, um sich ein Bild zu machen von jener Stadt, deren geschätzte 14 Millionen Einwohner möglicherweise schon in einigen Jahren EU-Bürger sein werden, der wird sich rasch von ihr einnehmen lassen. Und das liegt nicht zuletzt am Bosporus, diesem mächtigen, die Meere verbindenden Strom: An seinem Ufer stehend, schaut man zunächst den großen, stolzen Dampfern nach, die sich, von den Dardanellen her kommend, unermüdlich zum Schwarzen Meer hinaufschieben. Sind sie jedoch entschwunden, so öffnet sich, über das Wasser hinweg, ein grandioser Blick auf die Hagia Sophia, den Topkapi-Palast, die Minarette der Blauen Moschee – magische Orte allesamt, bei deren Betrachtung das Geschichtsbuch im Kopf aufgeht: Wer darin blättert, liest sich fest.

Das gilt nicht zuletzt für jene Passagen, in denen von den Beziehungen zwischen Berlin und Istanbul die Rede ist. Schon als Hauptstadt des Wilhelminischen Reiches richtete sich Berlin nach dem Orient aus. Davon zeugt bis heute die Kaiserliche Botschaft, die zwischen 1874 und 1877 auf einem Hügel hinter dem Sultanspalast Dolmabahce errichtet wurde. Wilhelm II. reiste später nicht weniger als dreimal nach Istanbul: Im Allianz-System des Hohenzollern kam dem Sultan eine Schlüsselrolle zu.

Wer heute an einem lauen Sommerabend durch die prächtigen Salons der einstigen Botschaft wandelt, der bleibt unweigerlich vor den riesenhaften Ölgemälden stehen, die neben Wilhelm II. auch seine beiden Vorgänger, den kranken „Hundert-Tage-Kaiser“ Friedrich III. sowie Wilhelm I., zeigen. Die borussische Heimat in ihrer kultivierten Kargheit mag den Monarchen damals wie eine entfernte Gegenwelt vorgekommen sein.

Dabei ist es gar nicht weit von Berlin nach Istanbul. Ausweislich jenes neuen Quartettspiels, auf dessen Karten Berliner Dönerbuden abgebildet sind, liegen zwischen dem Ostbahnhof und Istanbul-Zentrum 2.194 Kilometer. Für den Direktflug sind drei Stunden zu veranschlagen.

Gleichwohl ist es eine kleine Zeitreise, die jeder absolviert, der sich auf den Weg ins einstige Byzanz begibt. Gewiss, auch Istanbul hat heute seine Gucci-Läden. Im Beyoglu-Viertel, rund um die Istiklal-Fußgängerzone und den quirligen Taksim-Platz, sind die Clubs mondän, die Cafés überfüllt, die Buchhandlungen anglophil. Und doch ist der schrille Lärm des Konsums nur eine Tonspur im Sound von Istanbul. Istanbul ist, bei allem Flirt mit dem Okzident, eben auch das Eingangstor zum Orient.

Wer Istanbul begreifen will, der sollte es sich erlaufen: Traditionell beginnt der Besucher seinen Rundgang an der Hagia Sophia, jenem auf Kaiser Justinian I. (527–565 n. Chr.) zurückgehenden, monumentalen Sakralbau, der 1453 zur Hauptmoschee der Osmanen umgewandelt wurde, bevor Kemal Atatürk ihn im Jahr 1935 kurzerhand zum Museum erklärte. Vis-à-vis der „hohen Pforte“ befindet sich der Topkapi-Palast, der Sitz der früheren Sultane, mit bedeutsamen Sammlungen, erfrischenden Gärten und herrlichen Pavillons.

Vom Palast aus, der oberhalb des Marmara-Meers liegt, führt der Weg hinunter ans Ufer, in die Nähe des zentralen Schiffsanlegers: Hier legen viertelstündlich mit gemächlichem Tuckern die Fähren ab; sie befördern Jung und Alt, Einheimische wie Zugereiste, für ein Taschengeld in Richtung des Schwarzen Meeres.

Während aber der Fremde an Istanbul auch das Langsame schätzt, so sind andere Abgesandte Berlins ganz auf Tempo eingestellt. Das gilt vor allem für die Wirtschaft. Berliner Unternehmen haben längst erkannt, dass in Istanbul – und in dem riesigen türkischen Markt – im Wortsinne viel zu holen ist. Und so haben sie hier ihre Quartiere aufgeschlagen: die Scherings und die Dussmanns ebenso wie DaimlerChrysler Services oder die Messe Berlin GmbH. Sie alle setzen auf das dynamische Wachstum des türkischen Marktes und die täglich wachsenden Konsumbedürfnisse eines Landes, in dem 30 Prozent der Bevölkerung nicht älter als 15 Jahre sind.

Dabei sind es nicht nur die Exportgüter, die die Menschen zusammenführen, sondern auch die Kultur. Einen Höhepunkt bildete bereits 1997 das „grenzenlos“-Programm, in dessen Rahmen Berliner Künstler acht Monate lang in Istanbul arbeiten und präsentieren durften. Damals jubelte die türkische Tageszeitung Yeni Yüzyil, Berlin liege am Taksim. Heute vergibt der Berliner Senat jährlich zwei Stipendien, mit deren Hilfe junge Künstlerinnen und Künstler für sechs Monate von der Spree an den Bosporus ziehen können. Und vielleicht erleben sie die Stimmung, die Orhan Pamuk, der Autor von „Rot ist mein Name“, beschrieben hat: „Obwohl Istanbul überbevölkert ist, energiegeladen, manchmal deprimierend und armselig, ist das Leben hier doch gelassen. Die Menschen sind gastfreundlich und warmherzig. Es gibt eine Leichtigkeit des Seins.“