Graben nach der Wahrheit

Nach wie vor haben Ausgrabungsteams Angst vor Anschlägen radikaler Serben

aus Caparde in BosnienERICH RATHFELDER

Wenig mehr als zwei Kilometer von dem Dorf Caparde entfernt, gegenüber dem Müllplatz, führt ein kleines ungeteertes Sträßchen in den Wald. Einige Kurven, dann ist der Blick frei auf eine Lichtung. Ein paar Geländewagen stehen hier, ein Bagger lärmt, es riecht unerträglich. Hier, in „Crni Vrh“, der Schwarzen Höhe, befindet sich ein großes, erst kürzlich entdecktes Massengrab, das zu Beginn des bosnischen Krieges, im Sommer 1992, gegraben wurde.

Auf dem Boden der Grube von zwanzig Meter Länge und vier Meter Tiefe sind menschliche Knochen zu sehen, dazwischen liegen Plastiksäcke. Mit vollständigen Skeletten, mit Skelettteilen, Überresten von Kleidung. In der Sonne arbeiten die Mitarbeiter der Bosnischen Kommission für Vermisste gemeinsam mit Experten der Internationalen Kommission für Vermisste. Sie legen Schicht um Schicht frei, machen Fotos, entnehmen Erdproben, untersuchen die menschlichen Knochen, ordnen sie zu, verpacken sie in neue Plastiksäcke.

Es ist eine scheußliche, eine wichtige Arbeit. Denn hier werden nicht nur Beweise für Kriegsverbrechen zusammengetragen. Durch die Ausgrabungen und die anschließenden, mit modernsten Methoden erstellten Analysen erlangen Überlebende endlich Gewissheit darüber, wo, wann und wie ihre Angehörigen ums Leben gekommen sind.

„Vor uns liegen Menschen, die unter grausamen Umständen zu Tode gekommen sind“, sagt Ewa Klonowski, eine Isländerin polnischer Abstammung, die seit 1996 „über 300 Massengräber“ aufgespürt, geöffnet und untersucht hat. Die 55-jährige Forensikerin und Anthropologin sitzt im Schatten und spricht über das, was bisher schon aus diesem Grab zu lesen ist. „Wir haben bislang 320 vollständige Leichen entdeckt, hinzu kommen Leichenteile von rund 50 Personen. Wir rechnen mit noch mehr Leichen in den unteren Schichten des Grabes.“

Der größte Teil der Toten stammt aus dem Jahr 1992, dem Jahr der größten Verbrechen in Europa nach 1945. Damals vertrieben serbische Freischärler, Polizisten und Soldaten fast alle Nichtserben aus den von eigenen Truppen besetzten Teilen Bosniens. Das war die Zeit der „ethnischen Säuberungen“, mehr als hunderttausend Menschen sind damals nach internationalen Schätzungen ermordet worden.

„Die Leichen sind vermutlich Bürger Zvorniks.“ Viele der Opfer, darunter auch Frauen und Kinder, seien gefesselt gewesen, bevor sie erschossen wurden, sagt Ewa Klonowski. Ein anderer Teil der Opfer sei erst später herbeigeschafft worden. Es handele sich dabei wahrscheinlich um Ermordete aus Srebrenica. Diese stammten aus einem anderen Massengrab, seien dann vermutlich 1996 hierher gebracht worden. „Da sollten wohl Spuren verwischt werden.“

Über das Wie will sie nur wenig sagen. Denn Informanten müssen geschützt werden. So wie der Sohn eines ehemaligen serbischen Soldaten: Sein Vater vertraute ihm auf dem Sterbebett die Stelle eines Massengrabes an, um sein Gewissen zu erleichtern. „Solche Fälle sind rar, es gibt sie aber“, sagt Ewa Klonowski. „Man muss sich wundern, wie wenige Täter Informationen geben, nicht einmal anonym. Tausende haben doch bei den Morden geholfen, nicht nur jene, die geschossen haben, auch die Bagger- und Lastkraftwagenfahrer, die Aufseher, die Nachbarn in den umliegenden Siedlungen. Doch sie schweigen. Informanten sind meist Gefangene, die fliehen konnten.“

Sie berichtet über Menschen, die verwundet aus Leichenbergen krochen und denen es so gelang, zu überleben. In der Ostherzegowina, in der Nähe der Stadt Trebinje, sei im Sommer 1992 ein Mann nach einer Erschießungsaktion leicht verletzt in den Wald geflohen. Die anderen 37 Opfer wurden in eine 15 Meter tiefe Höhle geworfen. Die serbischen Soldaten warfen noch Handgranaten hinterher, schütteten Geröll und Tierkadaver in die Öffnung. „Doch aufgrund der präzisen Zeugenaussage des Überlebenden haben wir im Sommer 2000 die Höhle gefunden, das Geröll und die Tierknochen beseitigt und die Überreste der Opfer freigelegt.“ Erschüttert habe sie an diesem Grab am meisten, dass zwei der Opfer offenbar noch versucht hatten, schwer verletzt in eine Seitenhöhle zu kriechen. „Wir fanden ihre Überreste dort. Welch ein grausamer Tod.“

Nach wie vor weigern sich die Behörden der serbischen Teilrepublik in Bosnien, den Ausgrabungsteams all ihre verfügbaren Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen. Denn da die Morde und Verbrechen im Zuge der „ethnischen Säuberungen“ systematisch vorbereitet und geplant waren, müssten auch Hinweise auf weitere Massengräber in den Akten der Stadt, des Militärs und der Polizei zu finden sein. Vor einem Jahr erklärte die Regierung der Republika Srpska, es gebe nur 2.000 Tote in Srebrenica – darunter 1.800 Soldaten – und nicht 8.000, wie von internationaler Seite behauptet wird. „Kürzlich haben wir ein weiteres Massengrab in Kamenica nahe Srebrenica geöffnet, das fünfte dort. Allein darin fanden wir 500 Leichen, keine trug eine Uniform“, stellt Ewa Klonowski fest.

Hajruddin Mojanović, Staatsanwalt aus Tuzla, ist ebenfalls vor Ort am Grab auf der Schwarzen Höhe. Er soll Spuren sichern, Hinweise auf das Geschehen und die Täter sammeln und dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zur Verfügung stellen. Er beklagt denn auch die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Behörden bei der Aufklärung. Dennoch, über Satellitenbilder und Informanten würden immer wieder Gräber aufgespürt.

Auch jene, die nicht geschossen, aber bei den Morden geholfen haben, schweigen

Immerhin sichern seit einigen Jahren serbische Polizisten die Orte des Grauens. Nach wie vor nämlich müssen die Ausgrabungsteams Angst vor Anschlägen oder Übergriffen vonseiten radikaler Serben haben. Erst seit kurzem, nach langen Verhandlungen mit den Behörden der serbischen Teilrepublik, sind Staatsanwälte wie Hajruddin Mojanović aus der bosniakisch-kroatischen Föderation bei den Grabungen zugelassen. Auch die Kooperation mit der Serbischen Kommission für Vermisste hat sich in den letzten Jahren verbessert, sagt er. Einer ihrer Mitarbeiter ist hier am Grab zugegen.

Ablehnend und feindlich dagegen verhält sich die serbische Bevölkerung. In Zvornik, gelegen im Tal des Drina-Flusses, stößt man auf Schweigen, wenn man nach den Opfern von damals fragt. Nur wenige Muslime und Katholiken sind nach dem Krieg in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, zu fremd ist sie ihnen geworden. Nach dem Krieg gebaute Hochhäuser bilden nun die Kulisse, wo einst die verwinkelten Gassen der Altstadt waren. Sie wurde zu großen Teilen abgerissen. Die wegen ihrer Schönheit gerühmte Grenzstadt Bosniens zu Serbien ist eine andere geworden. Die ethnische Säuberung hat hier funktioniert, das multikulturelle Zvornik von einst ist heute eine serbische Stadt.

Ewa Klonowski und die Mitarbeiter des Ausgrabungsteams packen abends ihre Geräte zusammen, steigen in die Geländewagen. Sie fahren unter Polizeischutz Richtung Tuzla zum Hotel in den anderen Teil Bosniens. Die von ihnen untersuchten Überreste der Ermordeten werden von Mitarbeitern in den Kühlräumen des Podrinje-Indentifikationsprojekts in Tuzla überführt. 4.000 „Body-Bags“ lagern hier. Experten können mit DNA-Analysen die Opfer mit so genannten „Samples“, also dem DNA-Bild von Angehörigen, vergleichen. Fünfzehn bis zwanzig „Matches“, also Identifikationen, pro Tag seien seit dem Aufbau der Institution vor drei Jahren möglich.

„Mit unserer Arbeit geben wir den damals ermordeten Menschen wenigstens ein bisschen Würde zurück“, sagt Ewa Klonowski und zieht sich auf ihr Zimmer zurück. Morgen beginnt für sie wieder ein harter Tag, dort, im Massengrab auf der Schwarzen Höhe.