berliner szenen Die alte Frau (1)

Im Labyrinth Platte

Die alte Frau ist weg. Vielleicht ist sie ein Opfer der Finanzkrise geworden. Vielleicht ist der Kälteeinbruch Grund für ihr Verschwinden. Wahrscheinlich ist einfach der Schnaps schuld.

Die alte Frau hatte ein Problem mit dem Alkohol – das kann man sagen. Jeden Tag konnte man sie mit einer Flasche Schnaps in der Hand vor dem Haus sitzen sehen. Mit ihrer Gretchenfrisur und ihren langen Röcken wirkte die Frau ziemlich aus der Zeit gefallen. Sie hockte vor der Eingangstür einer braun gekachelten Plattenbaufront. Vermutlich hatte sie eine Wohnung in dem Plattenbau.

Die Finanzbeamtin, die kürzlich in der Gegend die Steuerprüfungen durchführte, hat von den Plattenbauten keine gute Meinung. Die Wohnungen seien durch private Umbaumaßnahmen und illegale Zusammenlegungen zu einer Art weitläufigem Höhlensystem verbunden worden, klagte sie. Einem Organismus, in der jede Wohneinheit nun über mehrere Eingänge, Flure und Badezimmerbereiche verfüge. Die Bewohner lebten in unübersichtlichen Patchworkverhältnissen, beim Einwohnermeldeamt ordentlich angemeldet seien die wenigsten. Kurz: die Mitarbeiter des Finanzamts Mitte-Tiergarten blicken bei den Plattenbauten in dieser Straße nicht mehr durch.

Es ist möglich, dass auch die alte Frau sich im neuen Höhlensystem nicht mehr zurechtgefunden hat. Oft konnte man sie beobachten, wie sie jungen Bewohnern in sportlicher Kleidung den Weg zum Haus versperrte. Sie schimpfte und fuchtelte. Manchmal war ihr Brüllen lauter als der vorbeiziehende Verkehr. Wahrscheinlich trinkt die Frau jetzt in einer anderen Straße. Wahrscheinlich trinkt sie da, wo die Verhältnisse geordneter sind.

KIRSTEN KÜPPERS