„Die Westlinke hat sich gedrückt“

Alle 4,9 Millionen westdeutschen Staatsdiener systematisch auf Stasi-Verstrickungen zu überprüfen, würde ihre Behörde überfordern, sagt Marianne Birthler. Die Geschichte der westdeutschen Linken könne aber ein bisschen Aufarbeitung vertragen

Interview MATTHIAS BRAUN
und STEFAN REINECKE

taz: Die Innenexperten von SPD und CDU wollen keine Massenüberprüfung westdeutscher Staatsdiener. Hat man im Westen Angst vor dem Thema Stasi?

Marianne Birthler: So würde ich das nicht sagen. Es gibt sicherlich gute Gründe, das zurückhaltend zu diskutieren. Der schlechteste ist, die Stasi-Vergangenheit als reines Ostthema zu betrachten. Dass einige dies tun, diesen Eindruck habe ich manchmal.

Sollen also alle 4,9 Millionen westdeutschen Staatsdiener überprüft werden?

Mir wird etwas schwindlig, wenn ich mir den Aufwand vorstelle. Zurzeit beschäftigen sich bei uns rund 140 von 2.300 Mitarbeitern mit Überprüfungen. Wir hätten ein logistisches Problem, wenn wir jetzt Millionen Anträge bearbeiten sollten.

Der Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz (CDU) schlägt vor, ihrer Behörde eine Namensliste aller Beschäftigten zu übergeben. Dann könnte der Abgleich ohne Anträge erfolgen?

Unmöglich. Und fern der Realität. Dazu müsste das Stasiunterlagengesetz geändert werden, weil wir nur auf Antrag recherchieren dürfen. Es spricht außerdem einiges dafür, dass Behörden und Parlamente sich jetzt öffentlich darüber verständigen, ob sich sich mit eventuellen Stasi-Verstrickungen ihrer Mitarbeiter befassen wollen.

Aber braucht irgendjemand diese öffentliche Debatte?

Ich will niemanden auf die Couch legen, aber die Geschichte der Westlinken könnte schon noch etwas an Aufarbeitung vertragen. Dafür, dass sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren die bundesdeutsche Gesellschaft gründlich verändert hat, ist recht wenig über diese Zeit geschrieben worden. Zum Vergleich: In den letzten 10 Jahren sind rund 3.000 Bücher über DDR-Geschichte erschienen. Und jetzt …

im Fall Wallraff …

… stehen die Journalisten und Kamerateams Schlange vor der Behörde. Plötzlich platzen alle vor Neugier. Plötzlich interessieren sich alle. Rosenholz stößt vielleicht eine Debatte an, vor der sich die Westlinke bisher gedrückt hat. Das wäre gut, obwohl schade ist, dass diese Aufarbeitung bisher nur über Skandale in Gang kommt.

Überschätzen Sie die Westlinken nicht ein bisschen? K-Gruppen-Streits waren doch ziemlich langweilig.

Jetzt untertreiben Sie aber. Als ich 1990 das Brandenburger Bildungsministerium aufbaute, kamen manche Mitarbeiter aus dem Westen. Ein paar kannten einander aus linken Gruppen, waren verfeindet und konnten nicht miteinander reden. Nicht wenige Altlinke bekämpfen sich noch heute. Da frage ich mich schon: Woher dieser Hass?

Und deswegen interessiert sich die Ostdeutsche Marianne Birthler für den westdeutschen K-Gruppen-Zwist?

Es gibt noch ein paar mehr Gründe. Erstens will ich ja auch, das der Westen sich für uns interessiert. Zweitens kommen manche meiner Freunde aus diesen Gruppen. Und drittens bin ich sicher: Eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit einfach abspaltet, verarmt kulturell.

Wiegt die Zusammenarbeit eines Westdeutschen mit der Stasi schwerer als die eines Ostdeutschen, wie Christian Wulff (CDU) sagt?

Das lässt sich so einfach nicht behaupten. Aber wenn Leute ohne Not der Demokratie den Rücken kehren und mit dem Geheimdienst einer Diktatur zusammenarbeiten, finde ich das mehr als bemerkenswert.

Man muss doch aber der Opposition in der BRD wie in der DDR zugestehen, für ihre Überzeugungen gekämpft zu haben?

Gegenfrage: Warum hat man mit allen möglichen Leuten Solidarität geübt, aber die Menschenrechtsverletzungen in der DDR hingenommen? Aus ideologischer Verblendung. Aber ich will nicht nur über andere reden. Vielleicht waren wir DDR-Oppositionelle gegenüber unseren westdeutschen Freunden auch nicht eindeutig genug. Wir haben ja selbst zu lange an eine veränderbare DDR geglaubt.